Spanische und portugiesische Komponisten

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Roberto Gerhard, Ramón Barce, Cristóbal Halffter, Luis de Pablo, Joan Guinjoan, Tomás Marco, Josep Soler i Sardà, Manuel Hidalgo, Jorge Peixinho, Emmanuel Nunes, Francisco Guerrero Marín, Alfredo Aracil
Spanische und portugiesische Komponisten

Roberto Gerhard (1896 – 1970)
Ramon Barce (1928 – 2008)
Cristóbal Halffter (geb. 1930)
Luis de Pablo (geb. 1930)
Joan Guinjoan (1931 – 2019)
Josep Soler (geb. 1935)
Jorge Peixinho (1940 – 1995)
Emmanuel Nunes (1941 – 2012)
Tomás Marco (geb. 1942)
Manuel Hidalgo (geb. 1956)

Von kulturpolitisch gesteuerten Rückschlägen gebremst, konnte sich in Spanien während der späteren Jahre des Franco-Regimes eine Generation von Komponisten etablieren, die dem Land im Konzert der internationalen Neuen Musik langsam wieder eine gewichtige Stimme verleihen sollte. Von der selbstbewussten Beharrlichkeit einiger antiisolationistischer Geister vorangetrieben, war es seit Beginn der sechziger Jahre möglich, dem staatlicherseits propagierten, neoklassizistisch gewirkten Folklorismus mit musikalischer Frischluft zu begegnen. Heute existiert in Spanien eine überaus bunte Schaffensvielfalt.

Roberto Gerhard, der 1896 in Valls (Provinz Tarragona) als Kind einer Familie das Licht der Welt erblickt hatte, die im schweiz-französisch-deutschen Dreiländereck verwurzelt war, wurde lange nicht als einer der bedeutendsten spanischen Komponisten gewürdigt. Von 1915 bis 1920 studierte er in Barcelona u. a. bei Enrique Granados und Felipe Pedrell, danach war er von 1923 bis 1928 zunächst in Wien, dann in Berlin Schüler von Arnold Schönberg. Als Kompositionsprofessor und Mitglied der avantgardistischen Künstlergruppe ‚Adlan‘, zu der auch Salvador Dalí und Joan Miró gehörten, engagierte er sich während der frühen dreißiger Jahre in Barcelona für katalanische Kunst und Musik. Hinsichtlich einer neuen Ästhetik aus dem Geiste der Volkskunst war Béla Bartók eines der Vorbilder: „Dieser wundersame Vorgang der Transsubstantiation ist meiner Ansicht nach die wichtigste Lehre, die wir katalanischen Musiker aus der Lehre des großen ungarischen Meisters ziehen müssen.“ Doch der Bürgerkrieg zwang den auch politisch engagierten Künstler 1939 ins Exil nach England. Als englischer Staatsbürger starb er 1970 in Cambridge.

Roberto Gerhard – eine umfassend gebildete Persönlichkeit von geradezu visionärer Geisteskraft und Phantasie – war Zeit seines Lebens auf der Suche nach einem eigenen Stil und verstand es in seiner komplexen und vielschichtigen Musik auf virtuose Weise, Fermente der spanischen Musik mit ganz eigenartigen seriellen und avantgardistischen Techniken zu verschmelzen. Wichtigste Werke: die Ballette Soirées de Barcelone (1936 – 1938) und Don Quixote (1940/41, 2. Fassung 1947/48); Violinkonzert (1942 – 45); Sinfonie Nr. 1 (1952/53); Collages, Sinfonie Nr. 3 für Orchester und Tonband (1960); Epithalamion (1966); Sinfonie Nr. 4 (1967).

Ramon Barce wurde 1928 in Madrid geboren. Er studierte in seiner Heimatstadt und promovierte in Philosophie. Obwohl er Kurse bei Olivier Messiaen und György Ligeti besucht hat, ist er als Komponist Autodidakt. Er war Professor für Sprachen und Literatur an verschiedenen Hochschulen, außerdem Gründungsmitglied der ‚Gruppe Neue Musik‘ und des Ensembles ‚Zaj‘ für experimentelles Musiktheater in Madrid. Von 1976 bis 1988 präsidierte er der ‚Vereinigung Symphonischer Komponisten‘ ACSE. Sein Werkverzeichnis umfasst viele Opera für die verschiedensten Besetzungen. Waren die frühen seiner Stücke in einem atonal-expressionistischen Stil geschrieben, so entwickelte Barce um 1967 ein neuartiges harmonisches System, das allen seinen späteren Kompositionen zugrunde liegt. Dieses sogenannte ‚Sistema de niveles‘ beruht auf den Antagonismen unterschiedlicher Zentraltöne. Das flexible Verfahren ermöglicht es dem Künstler einerseits, sich von hergebrachten Verfahren tonalen Komponierens loszusagen. Andererseits bietet es ihm eine tragfähige Organisationsbasis für neuartige musikalische Texturen. (Las cuatro estaciónes, 1965; Klavierkonzert, 1971/72; Sechs Sinfonien, 1975 – 1998).

Im Zentrum des geistigen Öffnungsprozesses steht der 1930 in Madrid geborene Cristóbal Halffter, einer der bedeutendsten Komponisten unseres Jahrhunderts. In seinem Elternhaus hatten Künstler wie Federico García Lorca und Salvador Dalí verkehrt; zwei seiner Onkel waren innovative, republikanisch gesinnte Komponisten. Nach dem Studium in Madrid, das ihm ein sicheres Handwerk auf der stilistischen Basis eines Manuel de Falla vermittelt hatte, ging Halffter in den späten fünfziger Jahren nach Paris, Rom, Köln und Darmstadt. Begegnungen etwa mit György Ligeti oder Karlheinz Stockhausen erweiterten seine Perspektiven, und Halffter fand schnell den Anschluss an die internationale Avantgarde. 1962 wurde er Kompositionsprofessor, zwei Jahre später Leiter des Konservatoriums in Madrid. Da er sich vom Franco-Staat nicht politisch einspannen lassen wollte, trat er bald von seinem Amt zurück. In Halffters umfangreichem, aus dem Geist der Humanität entstandenem Werk halten sich intellektuelles Kalkül, Klangsinnlichkeit und Ausdruckstiefe die Waage. Titel verschieden besetzter Werke wie Líneas y puntos (1967), Versus (1985) oder Fractal (1991) verweisen schon äußerlich auf eine abstrakte Seite seines Schaffens. Die ausdrucksstarke Musik lotet jedoch auch tief in der existentiellen Dimension des Menschlichen: Freiheit, Unrecht, Tod (Yes, speak out, yes Kantate für die UNO, 1968/69; Requiem por la libertad imaginada für Orchester, 1971; Elegías a la muerte de tres poetas españoles für Orchester, 1975); Memento a Dresden, 1994/95; Odradek – Homenaje a F. Kafka, 1996; Halfbéniz, 2000). Seine meist komplex strukturierten konzertanten Werke (u. a. Konzerte für Violoncello, 1975 und 1985; Violine, 1979 und 1990/91; Klavier, 1987; Saxophonquartett, 1990; Klarinettenkonzert, 2001) bestechen durch farbliche und vitalistische Individualität. Nicht zuletzt die menschliche Stimme weiß Halffter, der auch als Dirigent renommierter Orchester weltweit gern gesehen und in seiner Heimat als Autorität über musikalische Belange hinaus gefragt ist, immer wieder neu und auf faszinierende Weise einzusetzen, etwa im monumentalen Zyklus Siete Cantos de España für Sopran, Bariton und großes Orchester (1991/92), der sich mit den vielfältigen Wurzeln der spanischen Kultur und Geisteswelt befasst.

Auch Luis de Pablo, geboren 1930 in Bilbao, begann bereits früh mit selbständigen musikalischen Studien, die er auch während seiner Universitätsausbildung zum Juristen nicht unterbrach. Weitgehend Autodidakt, orientierte er sich in den frühen fünfziger Jahren an der Musik Weberns, Messiaens und der Serialisten. Dezidiert brach er in jener Zeit mit der sogenannten spanischen Musiktradition. De Pablo, ein unruhiger und vielseitiger Geist, hatte seine Schlüsselerlebnisse in Darmstadt. Als Avantgardist und Anreger entfaltete er während der sechziger Jahre in Spanien vielfältigste Aktivitäten (Gründer bzw. Mitbegründer so wichtiger Institutionen wie ‚Tiempo y Música‘, 1960; ‚Alea‘ – erstes elektronisches Studio Spaniens, 1965; ‚Encuentros de Pamplona‘, 1972 etc.). Intensiv befasste sich de Pablo mit den Problemen der offenen Form. In einer Reihe von Orchester- bzw. Ensemblestücken, den Módulos (1964 – 68), ermöglichen frei kombinierbare Passagen unterschiedliche Aufführungsresultate. Aktiv auch als Theoretiker, perfektionierte er im Lichte Einstein‘scher Erkenntnisse die Dimension der zeitlich undeterminierten, quasi relativistischen Abfolge klingender Ereignisse. In Heterogéneo für zwei Sprecher, Hammondorgel und Orchester (1967/78) arbeitete er konsequenterweise mit Zitatpartikeln aus musikalischen Werken und Texten des 19. Jahrhunderts; und in seinen jüngeren Arbeiten (Klavierkonzerte, 1978/89 und 1979/89; Tinieblas del agua für Tonband, 1977, bzw. für Orchester, 1977/78; Senderos del aire für großes Orchester, 1988; Figura en el mar für Flöte und Orchester, 1988/89 etc.) emanzipierten sich hier und da auch wieder (funktionsfreie) Dreiklangsharmonik und disponibles, präformiertes Material – was nicht heißt, dass sich Luis de Pablos heterogenes Schaffen problemlos dem Klischee postmoderner Unverbindlichkeiten zuordnen ließe. Weitere Werke: Tréboles (1995); Relámpagos für Tenor und Orchester (1996); Violinkonzert (1997).

Joan Guinjoan wurde 1931 in Ruidoms/Tarragona geboren. 1960 beendete er seine erfolgreiche Pianistenlaufbahn. Er verlegte den Schwerpunkt seiner künstlerischen Arbeit und studierte Komposition, Orchesterleitung und Elektronische Musik in Paris. Pierre Boulez zählte zu seinen Lehrern, Darmstadt zu den Orten seiner Studien. Zurück in Spanien, entfaltete Joan Guinjoan auf vielen Feldern eine rege Tätigkeit: als Komponist, aber auch als Kritiker, Lehrer und Dirigent der von ihm in Barcelona gegründeten Gruppe ‚Diabolus in musica‘. Im Zentrum seines Schaffens steht Orchester- und Kammermusik für die verschiedensten Besetzungen (Diagramas für Orchester, 1971; Trama, 1983). Auch mit Bühnenwerken, etwa seiner abendfüllenden Oper Gaudí (1989 – 91), hatte Guinjoan spektakulären Erfolg. Das zielsicher-intuitive Streben nach neuen Möglichkeiten des Ausdrucks ist bei diesem Künstler stark verwurzelt in der Musiktradition seines Landes. „Ich trachte immer danach, mich selbst zu finden, immer nach jenen widerspenstigen Spuren meiner Geburt suchend, deren bescheidene Ursprünge fest an die Realität eines jeden Augenblicks gebunden bleiben.“ Nicht zuletzt deshalb wirkt seine Kunst auch unmittelbar. Weitere Werke: Gitarrenkonzert (1996); Sinfonie Nr. 2 Ciutat de Tarragona, (1996 – 98; rev. 1999).

Tomás Marco, geboren 1942 in Madrid, hat andalusische Vorfahren. Aufgewachsen ist er in der Region Baskenland/Navarra. Während seiner Jugend betrieb er autodidaktische Kompositionsstudien, entschied sich dann aber für ein Studium der Rechte. Früh begann er in angesehenen Musikzeitschriften zu publizieren. In den sechziger Jahren besuchte er mehrfach Darmstadt und Köln, wo u. a. Karlheinz Stockhausen, György Ligeti, Mauricio Kagel zu seinen Lehrern gehörten. Marco zählt in Spanien zu den rührigsten Promotern der Neuen Musik. Tätigkeiten als Veranstalter, Rundfunkmann, als Direktor des Nationalorchesters und Chors etc. flankieren sein enorm vielfältiges, alle Gattungen umfassendes kompositorisches Schaffen. Im Zentrum stehen konzertante Werke und Orchestermusik. In seinen fünf Symphonien spiegelt sich Marcos Auseinandersetzung mit Problemen von Raum und Zeit, Kosmologie und menschlicher Wahrnehmung.
Los mecanismos de la memoria ist der Titel seines 1971/72 entstandenen rituell-feierlichen Violinkonzerts. Weitere Werke: Angelus novus – Mahleriana (1971); Pulsar für Orchester (1985); Symphonie Nr. 4 – Espacio quebrado (1987); Campo des estrellas (1989); Palacios de Alhambra für zwei Klavier und Orchester (1996/97); Sinfonietta Nr. 1 (1998/99). Die fünfte Symphonie – Modelos de universo (1988/89) reißt mit reduzierten Mitteln unendliche Räume auf: kosmische, historische und quasi lebensweltliche. Die beiden erstgenannten Dimensionen klingen an, unterstützt durch eine raffinierte Zitattechnik (u. a. Richard Strauss: Also sprach Zarathustra). Überdies ist jeder der attacca miteinander verbundenen sieben Sätze einer der Kanarischen Inseln gewidmet: ihrem individuellen Zauber, ihrer Einmaligkeit – dies auch ein Appell an die Verantwortung des Menschen der Erde gegenüber.

Josep Soler wurde 1935 in Vilafranca del Penedès bei Barcelona geboren. Er studierte Klavier und Komposition und besuchte Kurse bei René Leibowitz in Paris. Der Autor vieler Bücher und musikwissenschaftlicher Artikel lehrt an verschiedenen Hochschulen Spaniens. Das ästhetische und philosophische Denken Josep Solers spürt Traditionslinien nach, die aus der mediterranen Antike Altägyptens, Griechenlands und des frühen Christentums bis in unsere Zeit herüberreichen. Mit seiner meist strengen, esoterisch grundierten, zwar kompositorische Techniken aus dem 4. bis 14. Jahrhundert mit einbeziehenden, keinesfalls aber archaisierenden Musik geht es ihm darum, Kräfte solcher Art und Provenienz ins Gegenwartsbewusstsein zu bringen und vielleicht neu fruchtbar zu machen. Bühnenwerke: u. a. Danae (Ballett, 1960); Agamemnon (Oper, 1968); Edipo y Iocaste (1972); Orchesterwerke: z. B. Orpheus (1964); Visio del anyell mistic (1970). Josep Solers musikalischer Stil ist geprägt von freien seriellen Techniken und baut zum Teil auf den rhythmischen Innovationen Béla Bartóks und Olivier Messiaens auf. Abstraktes Kalkül und packender Ausdruck bilden in seiner Musik keinen Gegensatz. Weitere Werke: Trompetenkonzert (1996); Klarinettenkonzert (1997); Sinfonie Nr. 6 (1998).

Manuel Hidalgo, 1956 im andalusischen Antequera geboren, Schüler u. a. von Helmut Lachenmann, versucht nach Möglichkeit allen Stereotypen tradierten Komponierens zu entkommen. Mehr denn als Spanier fühlt er sich musikalisch als Europäer. Umweglos rezipierbar als strukturierter Klangprozess, unterläuft seine Musik doch gern alle eingeschliffenen Hörgewohnheiten und Konventionen. In ihrer oft spröden Einfachheit und Direktheit lässt sie keinen Raum für Träume und schöne Bilder. Die teils obertonreichen, teils homogenen Klangflächen seines Stückes Al componer für Bratsche, Cello und Kontrabass mit Orchesterbegleitung (1986) umflort schnell eine kalte, szientistisch anmutende Aura. Auch das Orchesterwerk Fisica (1991) verrät ob seiner reduktionistischen Klanggrundlagenforschung gewisse Affinitäten des Komponisten zur Naturwissenschaft. Hidalgo, der Expression als elitär-bourgeoise Attitüde zu demaskieren sucht, will z. B. mit Vomitorio (1991), einer labyrinthischen Musik zum Inszenieren für Darsteller, Chor, Blasorchester, Orchester und Streichorchester, der Überflussgesellschaft den Spiegel vorhalten. Es geht um Ekel und Lust, um Überdruss, Sattheit und Perversion – bezeichnet doch Vomitorio jenen Ort, an den sich die Römer zurückzuziehen pflegten, um sich zu übergeben. Weitere Werke: La ira pura für Euphonium und Orchester (1996/97); Bühne: Dalí, der große Masturbator (1998/99).

Der geographischen Randlage Portugals ist es zuzuschreiben, dass es auch seine herausragenden Künstler schwieriger haben, ins Zentrum der Diskussion zu gelangen. Jorge Peixinho (geboren 1940 in Montijo, gestorben 1995 in Lissabon) studierte zunächst Komposition und Klavier in seiner Heimat. Die Gulbenkian-Stiftung ermöglichte ihm einen Studienaufenthalt in Rom bei Goffredo Petrassi. Er war dann Schüler von Luigi Nono, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und besuchte während der sechziger Jahre regelmäßig die Darmstädter Ferienkurse. Seit 1970 wirkte er mit dem von ihm gegründeten Ensemble Grupo de Música Contemporanea de Lisboa erfolgreich gegen konservativ-verkrustete Strukturen. Peixinhos Musik gründet in seriellen Verfahren, die freilich seit Anfang der sechziger Jahre – wohl unter dem Einfluss Nonos – gelockert (Políptico für Kammerorchester, 1960; Saxophonkonzert, 1961; Jardim das Délicias für variables Ensemble, 1979) und formal flexibilisiert wurden. In seiner späteren, zunehmend klangfarblich-harmonisch orientierten Ensemble- und Kammermusik sowie in den sehr experimentellen Arbeiten für Film und Bühne kommen vielfach elektronische Mittel zum Einsatz.

Der international renommierte portugiesische Komponist Emmanuel Nunes wurde 1941 in Lissabon geboren. Er studierte zunächst in seiner Heimat und siedelte 1964 über nach Paris. Prägend für seinen hochartifiziellen, von allen Moden unabhängigen Stil waren u. a. Erfahrungen in Darmstadt und Köln. Zu seinen Lehrern gehörten auch Henri Pousseur und Karlheinz Stockhausen. Nunes betrieb jahrelange Studien auf dem Felde der elektronischen Musik und Klangerforschung – zuletzt im IRCAM, Paris. Von 1986 bis 1991 war er Kompositionsprofessor in Freiburg; seit 1992 ist er in gleicher Funktion am Conservatoire in Paris. Die Musik Emmanuel Nunes‘ ist materialanalytisch-komplex gewirkt und farblich äußerst vielschichtig. Sie erscheint oft kaleidoskopisch-zersplittert, wirkt quasi wuchernd und immer wieder neu sich generierend. Sehr stark rational gefasst, rührt sie doch an metaphysische Bereiche. Viele der unterschiedlich besetzten Werke sind unabhängige Teile einer übergeordneten Idee. Chessed II für sechzehn Instrumentalsolisten mit Verstärkung und Orchester (1980) oder Wandlungen – fünf Passacaglien für fünfundzwanzig Instrumente und Live-Elektronik ad libitum (1986) gehören z. B. dem ständig im Wachsen begriffenen Zyklus Die Schöpfung an. In Quodlibet (1991), einer mosaikhaft verschachtelten Klangwelt von rund einer Stunde Dauer, reagieren Materialien aus vierzehn früheren Kompositionen Nunes‘ aufeinander. Um ein zentral postiertes Orchester von fünfundvierzig Mitgliedern bewegen sich nach genauem Zeitplan sieben Solisten und weitere einundzwanzig Spieler: Neue Klanglegierungen entstehen, stetiges Keimen, Wachsen, Sichverzweigen; exemplarische musikalische Evolutionen. Epische Mannigfaltigkeit und Ausfahrt ins Unbekannte auch in Machina Mundi für Chor, vier Instrumentalsolisten, Orchester und Tonband (1990 – 92) auf Texte von Luis de Camoes (Os Lusiades; 1572) und Fernando Pessoa (Le Message; 1918 – 34).

Die stilistische Vielfalt des Komponierens auf der iberischen Halbinsel ist bemerkenswert. Aus dem Kreis weiterer Künstler sollten wenigstens erwähnt werden:
Francisco Guerrero (1951 – 1997), dessen z.T. mit Hilfe von Computerprogrammen entstandene, quasi naturhaft sich entfaltende Musik zum Originellsten der letzten Dezennien gehört. „Wenn du ein Feld siehst, siehst du Musik; beide unterliegen denselben Gesetzen.“ (Orchesterwerke: Madrid, 1976; Antar Atman, 1980; Sáhara, 1991; Coma Berenices, 1996).

Alfredo Aracil, geboren 1954 in Madrid, Schüler u. a. von Tomás Marco, Cristóbal Halffter, Luis de Pablo, Iannis Xenakis, Mauricio Kagel. Ein ebenso phantasiebegabter wie virtuos zu Werke gehender Polystilist, der auf intellektuell und emotional sehr redliche Weise ein „Spiel mit der Musik und ihrer Geschichte“ ins Werk setzt. (Tres imágines de Francesca, 1991; Giardano-notte, 1994; Pasaje invisibile, 1999.)

Helmut Rohm

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.