Symphonie Nr. 4 d-moll op. 120

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t1 Konzertführer
Robert Schumann
Symphonie Nr. 4 d-moll op. 120

Nummerierung und Opuszahl dieses Werkes täuschen; denn sie beziehen sich nicht auf die Komposition, die bereits 1841 erfolgte, sondern auf die zehn Jahre später durchgeführte Überarbeitung – die vornehmlich die Instrumentation betraf, die Substanz aber kaum tangierte – sowie auf die Drucklegung von 1853/54. Der wahren Chronologie nach ist es Schumanns dritte Symphonie nach jener in g-moll von 1832/33 und der als Nr. 1 fungierenden in B-dur op. 38, die Anfang 1841 entstand und das berühmte Symphonienjahr in Schumanns Schaffen einleitete. Die d-moll-Symphonie war das vierte Orchesterwerk in diesem gleichsam eruptiven Schaffensschub, der zwischen B-dur- und d-moll-Symphonie noch Ouvertüre, Scherzo und Finale op. 52 sowie den als selbständige Phantasie für Klavier und Orchester komponierten ersten Satz des späteren Klavierkonzerts op. 54 hervorbrachte. Schumann begann die d-moll-Symphonie Ende Mai und schloss die Partitur Anfang September ab. Bereits am 6. Dezember 1841 gab es im Leipziger Gewandhaus die erste Aufführung, die jedoch nur mäßigen Erfolg hatte und Schumann veranlasst haben dürfte, das Werk liegen zu lassen.

Die Symphonie hat zwar äußerlich die traditionellen vier Sätze (Allegro mit langsamer Einleitung, Romanze, Scherzo mit Trio, Allegro), doch unterscheiden sie sich im Innern so wesentlich vom Herkömmlichen, dass der Eindruck entsteht, die klassische Symphonie sei nicht Muster und Modell, sondern Widerpart der Komposition gewesen. Schumann scheint nach der gleichsam vorsichtig die gewohnten Bahnen abtastenden B-dur-Symphonie, deren unmittelbarer Erfolg gewiss nicht zuletzt auf ihrer insgesamt konventionelleren Haltung beruhte, das Bedürfnis gehabt zu haben, das klassische Modell mit Gegenentwürfen zu konfrontieren. Als solche nämlich erweisen sich Ouvertüre, Scherzo und Finale und vor allem die d-moll-Symphonie. Allerdings ist die so schön in diesen Zusammenhang passende und bis heute hartnäckig wiederholte Behauptung, Schumann habe die d-moll-Symphonie in ihrer ursprünglichen Fassung als ‚Phantasie‘ bezeichnet, falsch. Erst 1851 in der Rückschau und einem Anflug von klassizistischer Formstrenge gab Schumann dem Werk zeitweise den Titel Symphonistische Phantasie. Zuvor hieß das Werk stets „Symphonie“. Über die Intention des Stücks unterrichtet das Tagebuch Clara Schumanns vom 31. Mai 1841, wo es heißt, Schumann habe eine Symphonie begonnen, „welche aus einem Satze bestehen, jedoch Adagio und Finale enthalten“ solle. Die Formidee ist also die der Symphonie in einem Satz, die äußerlich dadurch verwirklicht ist, dass die Sätze ohne Pause einander folgen. Eine Überlagerung von Ein- und Mehrsätzigkeit, wie man sie aus Liszts h-moll-Klaviersonate oder Schönbergs Kammersymphonie op. 9 kennt, liegt nicht vor, sodass es eine Mehrdeutigkeit der formalen Funktionen nicht gibt. Die zugrundeliegenden Formanlagen sind unmissverständlich. Dass sie es sind, ist die Voraussetzung für Schumanns Verfahren, das den Hörer regelmäßig am Ende der einzelnen Sätze dadurch überrascht, dass die von der zugrundeliegenden Form geweckten Erwartungen nicht erfüllt werden.

Der erste Satz hat Sonatenform, doch auf die Durchführung folgt keine Reprise; sie ist ausgespart. Der zweite Satz, der seiner Anlage nach dem Schema A-B-A folgt, enthält den die Form rundenden dritten Teil nur in einer drastischen Verkürzung, und der dritte Satz, der nach Beethoven‘schem Vorbild auf Fünfteiligkeit zielt (dreimal das Scherzo, dazwischen zweimal das Trio), spart Teil fünf kurzerhand aus. Erst im Schlusssatz wird das Prinzip der Erwartungstäuschung aufgegeben, obwohl auch hier, freilich nicht am Ende, mit Formverkürzung gearbeitet wird. Das Prinzip der offenen Form, das jeden der Sätze in den vorangehenden hineintragen lässt und die Sätze auf diese Weise in ganz neuartiger Verknüpfung aufeinander bezieht, endet konsequenterweise im Finalsatz, der naturgemäß auf Offenheit der Form nicht angewiesen ist. Schumann hat es jedoch nicht bei der Verbindung der Sätze durch das Prinzip der offenen Form belassen. Die Reprisen, die dort, wo man sie erwartet, ausbleiben, fallen nicht einfach unter den Tisch, sondern kehren an anderer Stelle, wenn auch nie ganz wörtlich-notengetreu, wieder. Ihr Eintritt ist nicht minder überraschend-unerwartet wie ihr Ausbleiben an den bezeichneten Stellen. Jeder der Sätze enthält folglich Rekapitulationen von Motiven, Themen und Passagen aus den vorangehenden Sätzen. So sind die Romanze mit der langsamen Einleitung, das Trio mit der Romanze und der Schlusssatz mit dem ersten Allegro verknüpft, um nur die wichtigsten dieser thematischen Korrespondenzen zu nennen, die gleichsam irrational sind, nämlich frei von vorgegebenen Schemata, und auf diese Weise ein hintergründiges Bezugsnetz spannen, in der Qualität nicht unähnlich jenem „Beziehungszauber“, den Thomas Mann an Wagners Leitmotivverfahren so bewunderte.
Egon Voss

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.