Vier letzte Lieder

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t1 Konzertführer
Richard Strauss
Vier letzte Lieder

Die Gattung Lied zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk von Richard Strauss. Oft entstanden solche Kompositionen, wie er selbst bekannte, um der Langeweile zu entkommen, als „Öl zur Verhinderung des Einrostens der Phantasie“ (aus einem Brief an Hofmannsthal). In seiner Frau Pauline de Ahna hatte er zudem eine kompetente, kongeniale Interpretin. Der großen Opernsängerin sind denn auch viele Liederzyklen gewidmet, als teils offene, teils versteckte Liebeserklärungen. Strauss scheute sich nie, Privat-Direktes in Musik zu setzen, und dies nicht nur in der Sinfonia domestica oder in Intermezzo. Die Auswahl der Liedtexte, die er erstaunlich unbekümmert traf, ist oft nur aus unmittelbar persönlichen Umständen heraus zu verstehen. Der Charakter vieler Vertonungen weist weniger auf Bekenntnislyrik hin als auf kulinarische Repräsentationskunst. Dieser Zug zum Privat-Persönlichen ist auch den letzten Orchesterliedern von 1948 eigen, eine demutsvolle Huldigung an die Gattin. Noch einmal zog der Vierundachtzigjährige in diesen letzten vollendeten Kompositionen nach Gedichten von Hermann Hesse und Joseph von Eichendorff alle Register seines souveränen Könnens der Stimmführung und Orchestrierung.

In allen Texten ist das Motiv des Abschiednehmens, des milde verklärten Müde-Werdens vom Leben die beherrschende Aussage. Nicht einmal ein Ansatz von Schmerz und quälender Trauer ist in ihnen zu spüren. Und wenn im Eichendorffschen Abendrot die bang fragende Schlusszeile (‚Ist dies etwa der Tod?‘) Beklemmung verrät, dann wird dies im Orchesternachspiel wieder aufgelöst durch das leise verhallende Vogelgezwitscher der Piccoloflöten. Nichts soll die abgeklärte Ruhe, das Friedvoll-Idyllische der Lebensvollendung stören. Und als zarte programmatische Andeutung zieht in den Streichern nach den letzten Versen noch einmal das geliebte Hauptthema der symphonischen Dichtung Tod und Verklärung vorüber, doch jetzt ohne die dichte Emotion, sondern in ergreifender Stille.

Dieser Charakter ist allen vier Kompositionen durchgehend zu eigen. Die formal greifbare, gegenständliche Melodie wird aufgelöst in ein fließendes Melisma, in ornamentales Parlando. Dies hat zur Folge, dass die Gedichtstrukturen, ihr metrischer Bau, bei der Vertonung keine Rolle mehr spielen. Allein der Inhalt wird atmosphärisch ausgetastet. Aus der lyrischen Textanlage wird musikalische Prosa, eine engelsgleiche Erzählung, die schwebend bei der Schönheit einzelner Worte verweilen kann, sie sanft wogend musikalisch ausziert. Der Verlauf der Singstimme wird so zu einer Verzahnung einzelner Partikel und melodischer Elemente, die durch die enorme Melismatik ihre Ausdehnung spontan zu bestimmen scheinen. Der überwältigende Eindruck breitangelegter Bögen ergibt sich allein durch das Klang-Fließen des Orchesters, eine bis ins feinste durchkalkulierte Wirkung der harmonischen Fortschreitungen und Umwendungen.
So ist zu Beginn des ersten Lieds Frühling zunächst ein Pendeln zwischen c-moll und as-moll bestimmend, auch nach dem Eintritt der Singstimme. In weniger als vier Takten wendet sich die Musik ins extrem entfernte H-dur und cis-moll, um dann, am Schluss der ersten Strophe, Es-dur zu erreichen. Die Wirkung des folgenden Zwischenspiels ist ganz darauf angelegt, die Grundtonart C-dur, wie aus dem Nichts aufblühend, zu präsentieren. Dieser Prozess ereignet sich innerhalb von fünfundzwanzig Takten, und doch hat man den Eindruck eines völlig eingängigen, selbstverständlichen Verlaufs, der uns nicht quasi mathematisch fordert, sondern genussvoll in uns einfließt.

Den Mangel an musikalischen Kontrasten, der durch die charakteristische Auswahl der Texte gleichsam schon vorgegeben ist und der auch zu einer Eindimensionalität des wehmütigen Gefühls führt, löst die geradezu unheimliche Perfektion der Instrumentierung auf. Zwar werden die Texte, die – zumal bei Hesse – durchaus über den verklärten Altersabschied hinausgehen, mehr oder weniger biographisch auf das eigene – das Strauss’sche – Schicksal bezogen; was ihnen die Transparenz entzieht. Sie erfahren jedoch eine so betörend gelassene Umsetzung in die Musik des kalkulierten Gefühls, dass man als Hörer nur schwer die Distanz wahren kann. Die souveräne Art, in der sich Strauss im Jahre 1948, über dreißig Jahre nach der Uraufführung von Le Sacre du Printemps und den revolutionären Errungenschaften der ‚Neuen Wiener Schule‘ in der reinen Tonalität bewegt, im ästhetisch unerschütterlich Schönen, ist kaum fassbar. Denn hier ist nichts von Epigonentum zu spüren. Die Vier letzten Lieder hinterlassen den Eindruck des Originären, des überzeugten Bekenntnisses zur Tragfähigkeit der musikalisch-zentrierbaren Sprache. Wie mögen wohl die Zuhörer der Uraufführung, die am 22. Mai 1950 in London unter Furtwängler mit der Solistin Kirsten Flagstad stattfand, auf diese Musik des seligen Klangs, wenige Jahre nach Kriegsende, reagiert haben?
Bernhard Rzehulka

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.