Luciano Berio

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t1 Konzertführer
Luciano Berio
Luciano Berio

Oneglia bei Genua, 24. Oktober 1925 – Rom, 27. Mai 2003
Die etwa 150 instrumentalen, vokalen, vokalinstrumentalen, elektronischen und szenischen Werke des italienischen Komponisten Luciano Berio gehören zu den erfolgreichsten Stücken des zeitgenössischen Musikrepertoires. Vielleicht auch deswegen, weil sie einige besonders attraktive Merkmale der italienischen Tradition aufbewahren. Es geht um Eigenschaften, die gewöhnlich mit den typischen Merkmalen des italienischen Künstlers oder sogar des Italieners überhaupt gleichgesetzt werden: die fröhliche Natur, das lyrische Temperament und die Neigung zum Theater. Diese Merkmale charakterisieren tatsächlich die künstlerische Zivilisation Italiens, die sich vor allem in einem klaren Formgefühl weiterentwickelt und die mit verschiedenen Mitteln immer wieder formale Synthesen, fassliche und harmonisch ausgewogene Resultate hervorbringt. In der Orchestermusik Berios bewahrt sich die wesentliche Einstellung der italienischen Klassik: das Leben der musikalischen Formen in Klarheit darzustellen.
„Nicht Musik als Anwendung eines Systems schaffen, sondern gelegentlich ein System als Möglichkeit für die Musik.“ In diesem Aphorismus ist Luciano Berios gesamte antidogmatische Haltung der Musik gegenüber verdeutlicht. Ausgerüstet mit einer vielseitigen handwerklichen Basis, beschäftigt sich seine Klangphantasie mit der immer neuen Erweiterung von musikalischen Ideen, die ihrerseits die Erweiterung der Kompositionsverfahren bestimmen. In den fünfziger, sechziger Jahren, in seinen früheren Werken hat Berio Anregungen der seriellen Technik aufgenommen und verarbeitet. Werke wie Nones für Orchester (1954), Alleluja/Alleluja II (1956 bis 1958) für Orchester, Serenata für Flöte und 14 Instrumente (1957), Tempi concertati für Flöte, Violine, zwei Klaviere und Orchester (1958/59) entwickeln gewisse Prinzipien des seriellen Denkens, ohne sich aber der uniformisierenden Kraft eines totalen Serialismus zu unterwerfen. Trotz rationaler Planung und bewusster Strukturkonzeption bewahrt Berio – auch zur Zeit des strengsten Serialismus – seine eindeutig antidogmatische Einstellung. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1968, unter dem Titel Meditation über ein  Zwölftonpferd, schrieb Berio: „Die Ideologie der Kulturindustrie neigt dazu, Erfahrung zu Schemata und Stilen erstarren zu lassen: Formbildung wird Form; ein Instrument wird Apparat; ein gesellschaftliches Ideal wird Partei; Schönbergs und Weberns Poetik wird das Zwölfton-System. Mir dagegen ist es wichtig, dass ein Komponist in der Lage sein sollte, die relative Natur musikalischer Prozesse unter Beweis zu stellen: Ihre Strukturmodelle, die auf vorheriger Erfahrung beruhen, bringen nicht nur Gesetze hervor, sondern auch die Umwandlung und die Zerstörung eben dieser Gesetze. Das Bewusstsein eines Komponisten von der Funktionspluralität seines eigenen Rüstzeugs bildet die Grundlage seiner Verantwortung, genauso wie im täglichen Leben die Verantwortung eines jeden mit der Erkenntnis der Multiplizität menschlicher Rassen, Bedingungen, Nöte und Ideale beginnt. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass jeder Versuch, die musikalische Realität zu einer Imitationsgrammatik zu kodifizieren (ich beziehe mich hauptsächlich auf die mit dem Zwölfton-System verbundenen Bestrebungen), das Kainsmal des Fetischismus trägt, der mit dem Faschismus und dem Rassismus die Tendenz teilt, lebende Prozesse auf starre, etikettierte Objekte zu reduzieren, die Tendenz, sich eher mit Formeln abzugeben als mit Substanz.“
Die Tendenz, sich eher mit der Substanz eines Werkes als mit strukturellen Formeln zu beschäftigen, kann man schon im frühen Werk von Berio, etwa in Nones für Orchester (1954) deutlich beobachten. Das Stück ist auf einer symmetrischen Reihe von dreizehn Tönen aufgebaut. Permutationen von Tonhöhengruppen in der Reihe, progressive Veränderungen und Mutationen der Tondauern im Geiste des seriellen Denkens kann man leicht bei der Analyse der Partitur nachweisen. Der symphonische Ablauf des Stücks ist durch eine Folge von Spannungen und Entspannungen gekennzeichnet, sie werden durch Verdichtung und Verringerung des Tonmaterials erzeugt, und zwar in den beiden polaren Richtungen vom chromatischen Total (mit dem Effekt des ‚weißen Rauschens‘) bis hin zur leeren Oktave. Die musikalische Dramaturgie dieses Stücks, ebenso wie seine formale Geste, entsprechen einer musikalischen Konzeption, die viel umfassender ist als die serialistische Erforschung der klanglichen Materie.
Für Pierre Boulez und sein Ensemble ‚Domaine musical‘ in Paris schrieb Berio 1957 die Serenata für Flöte und 14 Instrumente: ein Stück, das die serielle Technik frei entwickelt. Die virtuose Partie der Soloflöte, ebenso wie die ein Jahr später geschriebene erste Sequenza für Flöte solo wurde von der Virtuosenkunst des Flötisten Severino Gazzelloni inspiriert. Die vierzehn in der Serenata verwendeten Instrumente bilden keine Begleitung für die Soloflöte, sondern erweitern ihre Möglichkeiten in einer ständigen Wechselwirkung der musikalischen Elemente, die die Töne der Reihe relativ frei permutieren. Schon in dieser Serenata – also noch im Kontext des seriellen Denkens – definiert Berio einige wesentliche Konstruktionsprinzipien seiner Musik.
‚Technik‘ ist für ihn keine abstrakte Gegebenheit, die von außen her selbständig auf das Werk einwirkt, sondern sie ist etwas aus der musikalischen Idee selbst und aus seiner spezifischen Musikalität heraus Gewachsenes. Eine so gestaltete Musik ist nicht dialektisch, sondern ganzheitlich aus einem Ideenkern entwickelt.
Ein wesentlicher Aspekt der Instrumentalmusik von Luciano Berio ist in seinen Chemins (Wege)-Stücken enthalten (dazu gehört auch Corale für Geige, 2 Hörner und Streicher (1981). Die Chemins (wie auch Corale) stellen die Orchestertranskriptionen der Sequenze für Soloinstrumente dar. Die Orchestertextur, die die Solostimme umgibt, erweitert und entwickelt die musikalischen Eigenschaften jeder ursprünglichen Sequenza.
Chemins I für Harfe und Orchester (1965) ist wie ein musikalischer Kommentar der Sequenza II für Harfe (1963); die Chemins II und III (1967 bis 1972) beziehen sich auf die Sequenza VI für Bratsche (1967): Chemins II (1967) ist eine Transkription für Bratsche und neun Instrumente; die Chemins III schließen die musikalische Erweiterung dieser Sequenza VI in die dichtere Textur des Orchesters ein: So entsteht das Stück Chemins III für Bratsche, neun Instrumente und Orchester. Chemins IV für Oboe und Streicher (1975) entwickelt die Sequenza VII (1969) für Oboe solo. Über diese Art von kompositorischer Arbeit, welche Konstellationen aus ähnlichen Werken – aus verschiedenen Versionen einer musikalischen Substanz schafft – sagt Berio: „Die drei Stücke – Sequenza für Bratsche, Chemins II für Bratsche und neun Instrumente und Chemins III, für Bratsche, neun Instrumente und Orchester – halten wie die Schichten einer Zwiebel zusammen: unterschiedlich, getrennt und trotzdem aufeinander geklebt. Jede neue Schicht bildet eine an der vorigen Schicht haftende neue Fläche; und jede vorige Schicht übernimmt eine neue Funktion, sobald sie wieder verdeckt wird.“
Wie die anderen Chemins fußt auch Chemins V für Gitarre und Kammerorchester (1992) auf dem Solostück Sequenza XI für Gitarre (1988). Die Stücke für Solo und Orchester Corale, Kol od und Récit entstehen auch auf Grund derselben Strategie der musikalischen Transkription, d. h. der orchestralen Erweiterung oder Verräumlichung der Eigenschaften eines Solostücks: Corale (1981) ist eine musikalische Erweiterung der Sequenza VIII für Violine. Eine ähnliche Technik ist auch in Kol od (Chemins VI), für Trompete und Kammerorchester (1996), und in Récit (Chemins VII), für Altsaxophon und Orchester (1996), zu beobachten.
Die Transkription ist für Berio eine permanente und wesentliche Dimension des Komponierens, gewissermaßen ein Instrument für die Analyse der musikalischen Realität. Diese aktive Transkription ist keine ornamentale Variation eines früheren Werkes, sondern ein Umkomponieren, ein Verwandeln, eine weitere Entwicklung der musikalischen Materie.
Die Transkriptionen bedeuten also die ständig aktive Beziehung des Komponisten den verschiedenen musikalischen und außermusikalischen Phänomenen gegenüber: Die verschiedenen literarischen Quellen für die szenischen Stücke, die verschiedenen volkstümlichen vokalen und instrumentalen Techniken, die Werke von anderen Komponisten – Monteverdi, Boccherini oder Mahler – und auch die eigenen musikalischen Kompositionen sind sozusagen als Gegebenheit betrachtet, die man immer wieder umkomponieren kann, um neue Bedeutungen und neue Wirkungsfähigkeiten der Transkription zu entwickeln. Der Weg von einem Werk zum anderen, die Wege von mehreren Werken zu einem neuen oder zu mehreren neuen – schließlich das Labyrinth von Wegen im künstlerischen Wandern des Komponisten, alles das beruht auf der Transkription, einem Kompositionsverfahren, das seine lange Geschichte hat.
Die Transkriptionen in den instrumentalen Werken von Berio sind immer spezifische musikalische Kommentare: Kommentare eines früheren Stücks (wie im Fall der Sequenza-Stücke, die in Chemins verwandelt wurden); Kommentare eines fremden Werkes (wie des Scherzos aus der zweiten Symphonie von Mahler in der Sinfonia, 1968/69); Kommentare einer spezifischen Technik (wie die Hoquetus-Technik aus Zentralafrika, die in der komplexen Textur von Coro für 40 Stimmen und Instrumente, 1974 bis 1976, bearbeitet wurde); Kommentare der Prinzipien einer musikalischen Gattung (wie im Concerto für zwei Klaviere und Orchester, 1972/73) und teilweise in Linea (1973) für zwei Klaviere, Vibraphon und Marimbaphon und Points on the curve to find... für Klavier und 22 Instrumente (1974); Kommentare verschiedener Volkslieder oder typischer Prinzipien der Volksmusik (wie in den rein instrumentalen Werken Ritorno degli Snovidenija für Violoncello und 30 Instrumente, 1976/77), wo russische Volkslieder bearbeitet wurden, oder Voci für Bratsche und zwei Orchestergruppen, 1984, wo italienische Volkslieder transkribiert wurden. Das Concerto für zwei Klaviere und Orchester (1972/73) ist ein überzeugendes Beispiel der umfassenden Transkriptionstechnik Berios. Einerseits übernimmt es die Transkriptionsprinzipien der Chemins in Bezug auf die Sequenza; andererseits entwickelt das Concerto das Prinzip der Deduktion der musikalischen Texturen, anders gesagt das Prinzip der konsequenten Transkription, die die kohärente Totalität des Werkes bildet. Die Solopartien der zwei Klaviere, aber auch die Soloabschnitte für die Solisten im Orchester – Flöte, Violine, Klarinette – sind jenen Prinzipien der Transkription unterworfen, die die Solo-Sequenza-Stücke in die Chemins umwandeln. Deswegen erscheint das Concerto für zwei Klaviere auch als eine kohärente und konzentrierte Transkription von mehreren Sequenze und Chemins. Zugleich ist das Werk eine zeitgenössische Transkription der traditionellen musikalischen Gattung; ein Umkomponieren – auf Grund der Transkription – der Prinzipien des instrumentalen Konzerts.
Die Musik von Berio ignoriert bewusst alle traditionellen Grenzen: die Grenzen zwischen Klang und Geräusch, zwischen Wort und Klang, zwischen literarischer und musikalischer Materie, zwischen elektronischem und akustischem Klanggeräusch, zwischen instrumentalen und vokalen Gattungen, zwischen verschiedenen musikalischen Traditionen, zwischen Musik und Theater. Seine Sinfonia (1968/69) ist erstaunlicherweise nicht für symphonisches Orchester, sondern für acht Stimmen und Instrumente komponiert. Sie entwickelt die Prinzipien der aus instrumentalen Quaderni und vokal-instrumentalen Stücken (auf Texte von M. Proust, A. Machado, J. Joyce, E. Sanguineti, C. Simon und B. Brecht) bestehenden Epifanie (1959 bis 1965) für Sopran (Mezzosopran) und Orchester weiter. Der fünfteilige Zyklus der Sinfonia ist symmetrisch um das Scherzo – den dritten Satz – aufgebaut: Der erste und der fünfte Satz erarbeiten musikalisch die Problematik des Mythos nach der Auffassung von C. Levy-Strauss (vgl. sein Buch Le Cru et le Cuit; Plon, Paris 1964); der zweite und der vierte Satz bilden den lyrischen Rahmen für das Scherzo. Der zweite Satz, ‚O King‘, ist dem getöteten Führer der Schwarzen, Martin Luther King, gewidmet; der vierte Satz erinnert eindeutig an den vierten Satz ‚Urlicht‘ (‚O Röschen rot...‘) der Auferstehungs-Symphonie von Mahler. Das Scherzo aus der Sinfonia ist das klassische Beispiel für die Collage- und Zitattechnik in der zeitgenössischen Musik geworden: Auf Grund des Scherzos aus der zweiten Symphonie von Mahler komponiert Berio seine eigene theatralische Vision der Musikgeschichte, aber auch sein eigenes Porträt als Komponist. Die Musikgeschichte sieht er mit den Augen eines seltsamen, fröhlichen, ‚verkehrten‘ Dante Alighieri: von seinem Vergil, das heißt von Mahler, begleitet, entdeckt Berio in dessen Scherzo die wunderbare Fülle der musikalischen Tradition wieder. Bach, Beethoven, Berlioz, Strauss, Debussy, Ravel, Strawinsky, Schönberg, Berg, Webern, Hindemith; aber auch die Zeitgenossen und die Freunde – Boulez, Stockhausen, Pousseur, Globokar... sie sind da, um das Theater der Musikgeschichte und das Porträt von Berio aus ganz verschiedenen Facetten zusammenzustellen. Die notwendige Voraussetzung für die Theatralisierung der Orchestermusik bei Berio ist die Anwesenheit der Stimme. Die Aussage eines Textes oder die vokale Darstellung einer Emotion braucht nicht unbedingt eine visuelle, szenische Aufführung, um als Musiktheater empfunden zu werden. Die Musik der Sprachen und die Äußerungen ohne Worte der Emotionen bilden die mehrschichtige heterogene Materie der komplexen Komposition. Einer ähnlichen Kompositionsstrategie ist das Stück Laborintus II (1965) für Stimmen, Instrumente, Tonband, drei Frauenstimmen, Sprechchor und Sprecher auf eine Textkomposition von Edoardo Sanguineti unterworfen.
Die späteren Stücke Canticum novissimi testamenti, ballata für 4 Klarinetten, Saxophonquartett und 8 Singstimmen (1989 – 91), Ofanim für zwei Kinderchöre, 2 Instrumentalgruppen, Frauenstimme und Live-Elektronik nach alttestamentarischen Texten (1988 – 1997) und Stanze für Baryton, 3 Männerchöre und Orchester (2003), das letzte Stück im Katalog von Berio, mit Texten von Giorgio Caproni, Edoardo Sanguineti, Alfred Brendel und Paul Celan, veranschaulichen Berios Anliegen, die verschiedenen Ausdrucksmittel der traditionell getrennten Gattungen in einer permanenten Auseinandersetzung und Zusammenwirkung zu verwenden. Die Mehrschichtigkeit und die Mehrdeutigkeit in diesen Werken ist noch mehr mit der Notwendigkeit einer Verräumlichung der musikalischen Aussage verbunden. In den späteren Stücken für Orchester Formazioni (1985 – 87), Continuo (1989 – 91), Ekphrasis (Continuo II) (1996) wie auch in Solo für Posaune und Orchester (1999 – 2000), aber auch in den Werken für Kammerorchester – Notturno für Streichorchester (1993 – 95), Bearbeitung des Quartetto III, There is no tune für Kammerorchester (1994) und Re-Call für 23 Instrumente (1995) – übernimmt Berio oft die Technik der Transkription, die sich in den neueren Richtungen der spektralen Entfaltung und der mehrschichtigen Verräumlichung der musikalischen Materie weiterentwickelt.
Schon immer stark verankert in der westlichen musikalischen Tradition, bearbeitet Berio stets mit sehr viel Phantasie Werke seiner berühmten Vorläufer. In der gegenwärtigen Phase der musikalischen Postmoderne erlauben seine zahlreichen Transkriptionen, die Modernität der Musik der Vergangenheit wiederzuentdecken. Es sei an seine bekannten Quattro versioni originali della Ritirata Notturna di Madrid von Luigi Boccherini für Orchester (1975) erinnert, aber auch an die Bearbeitungen von J. Brahms – Opus 120 Nr. 1, bearbeitet von L. Berio für Klarinette (oder Viola) und Orchester (1990), von Fr. Schubert, im Rendering für Orchester (1990), von W. A. Mozart – Vor, während, nach Zaïde, Kommentar zu einer unvollendeten Oper von W. A. Mozart (1995), von J. S. Bach – Contrapunctus 19 (2001) aus der Kunst der Fuge, bearbeitet von L. Berio für 23 Spieler. Da er sich schon immer besonders von Stimmen angezogen fühlt, komponiert Berio auch die Transkription seiner eigenen Folk Songs für Mezzosopran und 7 Instrumente (1964), die 1973 für Mezzosopran und Orchester bearbeitet werden. Voci (Folk Songs II) für Viola und 2 Instrumentalgruppen übernimmt die Idee der freien Integration von Volksliedern in einem Konzertstück. Als Bewunderer von Gustav Mahler bearbeitet er auch Mahlers Fünf frühe Lieder für Bariton und Orchester (1986), dann Sechs frühe Lieder für Bariton und Orchester (1987). Getreu der italienischen Tradition bearbeitet Berio auch Giuseppe Verdi in 8 Romanze für Tenor und Orchester (1991).
Die Transkription vielfältiger musikalischer und literarischer Realitäten im Schaffen von Berio erlaubt eine immer neue Erfindung schon bekannter Realitäten. Sie ermöglicht, mehrere und andere Gesichter einer Wahrheit musikalisch zu enthüllen. Warum immer die Transkription? Hier Berios Antwort: „Nichts ist abgeschlossen. Sogar ein vollendetes Werk ist der Ritus und der Kommentar von etwas, was früher geschehen ist, oder von etwas, was später kommen wird. Die Frage fordert nicht unbedingt eine Antwort heraus, sondern einen Kommentar, eine andere Frage, mehrere Fragen. Jede unserer Handlungen kommentiert und führt etwas anderes weiter: in diese Fülle von Wegen, die unvermeidlich zu anderen Wegen leiten. Und jeder Weg verzweigt sich in ein Flechtwerk von Stämmen, Ästen, Zweigen. Unser Platz ist hier, auf dem äußersten und dünnsten Zweiglein, von wo wir das immer neue Sprießen der möglichen Bedeutungen beobachten. Ihre Wege können wir nur dann verfolgen, wenn wir nach hinten schauen, und vielleicht auch nach vorne, wo die Wege sich in drei Millionen neue Richtungen verbreiten; mit der einzigen Gewissheit für uns, dass nur einige von ihnen zu etwas Anderem führen werden als nur zu einer neuen unübersichtlichen Verdichtung von Wegen...“ Berios Musik mit ihrer ständigen Themenvielfalt beweist Spezialisten und Amateuren, dass es nichts musikalisch Unmögliches gibt. Alle Arten von Musik, alle kulturellen Referenzen und alle Materialien werden durch den „Nachschlagekatalog“ kompatibel und zusammensetzbar (so Berio über Laborintus II), und zwar im stets kohärenten Raum des Werks. Im Gegensatz zur gesprochenen Sprache, die zählbar und notwendigerweise von heterogenen Elementen, die nicht übereinander gelagert werden können, geprägt ist, erfindet Berios Musik „in der Höhendimension“ vielfältige Werke, mit multidimensionalen Räumen, die man in verschiedene Richtungen erforschen kann. Verschiedene Kompositionsfragmente, die aus weit entfernten Orten stammen, finden zu einer Unzahl kohärenter Ensembles zusammen, die die Einheitlichkeit des vielfältigen Diskurses dieses musikalischen Meistererzählers bestätigen, indem sie systematisch das Fehlen jeglicher Universalität des Diskurses bekräftigen: „Ich habe es immer geliebt, auf der Piazza San Marco in Venedig spazieren zu gehen. Es gibt dort so viel Musik, ein Orchester spielt einen Walzer, ein anderes genau daneben einen Tango, und dann vermischt sich alles miteinander.“ Die vielschichtigen Werke Berios, in denen die unterschiedlichsten Arten von Musik zusammenkommen, die immer in ein kohärentes musikalisches Projekt zusammengefasst werden, lassen an das Klanggeschehen des Lebens selbst denken, das dieser große zeitgenössische Klassiker stets mit Liebe hörte, untersuchte und komponierte.
Ivanka Stoianova

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.