Leonard Bernstein

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t1 Konzertführer
Leonard Bernstein
Leonard Bernstein

Lawrence (Massachusetts), 25. August 1918 – New York, 14. Oktober 1990
Bernstein gilt hierzulande, in den Breitengraden verinnerlichernder Kulturüberheblichkeit, weithin immer noch schlicht als Eklektiker, als auf Erzielung von Außenwirkung zu reduzierender typischer US-Amerikaner mit oberflächlichem Showbusiness-Gehabe. Gewiss beherrscht er das Instrumentarium eigener weltweiter Medienvermarktung brillant wie kaum ein zweiter, hat er einen Stab von Profis um sich vereint, der das Vorfeld von ‚Ausstrahlung‘ virtuos aufarbeitet, um der ‚Sendung‘ die kalkulierte Wirkung zu ebnen. Und auf Sendung ist Bernstein wahrlich häufig. Nur waren das – in den fünfziger Jahren etwa – Veranstaltungen, deren Konsumenten ihrer Habenseite mehr Sensibilisierung, Verständnis, Kenntnis über Musik gutschreiben konnten, als das mitteleuropäischer Norm entspricht. Omnibus, zuerst für Jugendliche, später auch, zusammen mit New York Philharmonic für Erwachsene, nannte sich zum Beispiel solch unprätentiös angelegtes Vorgehen in Serie. Young People’s Concerts (Konzerte für junge Leute) lief seit 1958 dann dreizehn Jahre lang. In mehr als fünfzig Programmen wurden Akzente gesetzt zur musikalischen Bildung in den USA. Das Buch dazu – Omnibus als Teil von Joy of Music, New York 1959 (deutsch: Freude an der Musik, Stuttgart 1961) – wurde zum Bestseller. Wen auch das noch nicht überzeugte, der mochte zur Publikation von Bernsteins Charles-Eliot-Norton-Vorlesungen aus dem Jahre 1973 greifen: The Unanswered Question, Six Talks at Harvard (Cambridge, Mass., 1976; deutsch: Musik – die offene Frage, Wien 1979). Diese symptomatischen Einlassungen Bernsteins offenbaren ihn, wie er da wissenschaftlich-logisch, musikalisch-empfindsam argumentiert und formuliert, als Musikdenker mit der Heimat „Tonalität, die dem menschlichen Organismus eingebaut ist“ (Bernstein).
Harvard mag als Bernsteins geistige Heimat gelten, Ursprünge seiner kreativen Persönlichkeit sind jüdische Tradition und originäre Musikalität, die weit jenseits des Normalen angesiedelt ist. Walter Piston, Fritz Reiner und Sergej Koussevitzky sind prägende Lehrer des am 25. August 1918 in Lawrence geborenen Leonard Bernstein. Koussevitzkys Inspiration speziell ist nicht ohne Einfluss auf Bernsteins Dirigierstil und ‚Sendungsbewusstsein‘ geblieben. Auch die Story, dass ‚Lenny‘, damals jener Hilfsdirigent der New Yorker Philharmoniker, am 14. November 1943 als ‚Einspringer‘ für den erkrankten Bruno Walter in der Carnegie Hall äußerst erfolgreich das 4025. Konzert dirigierte, soll ihre Medienwirksamkeit gehabt haben. Freilich wirkte solcherart auch Bruno Walters Geistigkeit, mit dem Bernstein in engem Kontakt war, in das Werden des Musikers Bernstein hinein.
Bernstein, der Dirigent, das ist eine Erfolgsgeschichte der besonderen Art: New York City Center Orchestra, Chef der New Yorker Philharmoniker, nach 1969 Gast am Pult aller führenden Orchester der Welt, besonders enge Verbindung mit dem Israel Philharmonic Orchestra seit 1947, 1953 als erster amerikanischer Dirigent an der Mailänder Scala mit Cherubinis Medea (Titelpartie: Maria Callas), 1963 erster Auftritt an der New Yorker Metropolitan Opera mit Verdis Falstaff, 1966 mit derselben Oper Debüt an der Wiener Staatsoper (Regie: Visconti), 1970 Verfilmung von Verdis Requiem. Mit diesem audiovisuellen Startschuss war der Auftakt gegeben zu zahllosen weiteren Realisierungen, inklusive der Beethoven-Symphonien mit den ‚Wienern‘ und des Münchner Tristan–Projekts beispielsweise. Daneben steht Bernsteins Engagement für Gustav Mahler, Joseph Haydn – oder Leonard Bernstein eben.
Der Dirigent, der Pianist, der Liedbegleiter, der Komponist Bernstein hat in seiner Vielfalt immer wieder Kritik provoziert zumal aus europäischer Sicht der Dinge. Ist er doch der erste weltweit wirkende, nur in den USA ausgebildete Musiker. Seine musikalische Kompetenz freilich wurde nie in Frage gestellt, die Homogenität seiner Arbeitsleistung, die Gratwanderung zwischen den bürokratischen Abgrenzungen von E- und U-Musik als bravourös gemeisterte Langstreckendistanz akklamiert. Die Amerikanismen und die Judaismen in Bernsteins Musik sind Teil seiner schöpferischen Vitalität, sind Ausdruck von Sympathie für die gesamte Bandbreite aller Musik, sind Ergebnis einer Gesinnung und einer Sprache. Bezeichnenderweise hat Bernstein seinen Kompositionen oft Texte oder eine Art von Programm zugrunde gelegt. Im Vorwort zu seiner zweiten Symphonie The Age of Anxiety (Das Zeitalter der Angst) nach W. H. Audens Dichtung für Klavier solo und Orchester aus dem Jahre 1949 notierte er: „Ich habe insgeheim den Verdacht, dass jedes meiner Stücke – ganz gleich für welches Medium – in gewisser Hinsicht Theatermusik ist.“ Auffallend an Bernsteins Musik ist die rhythmische Struktur, speziell seine Vorliebe für Synkopen, rhythmische Polyphonie und asymmetrische Metren; kurze Motive und Intervalle sind konstruktive Elemente seiner Melodik. Der Eklektiker Bernstein (im angloamerikanischen Sprachgebrauch löst dieser Terminus im Sinn von ‚auswählen‘ keineswegs so negative Assoziationsketten aus wie in der ‚Alten Welt‘) zeigt sich beeinflusst von Strawinsky, Copland, Schostakowitsch und anderen musikalischen Formulierungsmöglichkeiten, Jazz- und iberoamerikanische Idiome sind charakteristisch, ebenso tauchen Elemente der Zwölftontechnik auf, immer jedoch grundiert im tonalen Rahmen: „Ich bin ein Komponist ernster Musik, der versucht, Songs zu schreiben. Ich hatte eine Sinfonie komponiert, bevor ich einen Schlager schrieb.“
In dem knappen halben Jahrhundert seit 1943 – damals veröffentlichte er den Liederzyklus I hate Music, five Kid-Songs, mit der Bernstein‘schen Lyrik („Ich hasse Musik, aber ich liebe zu singen“); ein Jahr vorher schon war seine von ihm für veröffentlichungswürdig, also für gut befundene Klarinettensonate publiziert worden – hat Bernstein etwa fünfzig ‚opera‘ als seinen kompositorischen Beitrag für den Musikbetrieb freigegeben. Darunter sind drei Symphonien, die von außermusikalischen Grundideen ausgehen, eine symphonische Suite, eine Serenade für Solovioline und kleines Orchester, Ballettpartituren, Filmmusik zu Elia Kazans On the Waterfront (Die Faust im Nacken), später als fünfteilige symphonische Suite im Druck erschienen, die das „bringt, was während der Fertigstellung des Films auf dem Fußboden des Filmstudios liegengeblieben wäre“, diverse Stücke fürs Musiktheater, Klavier- und Kammermusik. 1944, 1953 und 1957 entstanden seine Musicals On the Town, Wonderful Town und West Side Story, durch die er speziell auch beim ganz großen Publikum zum Begriff wurde. 1983/84 folgte die umstrittene Oper A Quiet Place (Uraufführung in Houston/ Texas, später in Washington und Mailand).
Vokale Elemente sind Grundmuster des Bernstein‘schen Komponierens, Psalmodie, Liedmelos und Songstil prägen auch die Instrumentalmelodik seiner Orchestermusik. Die erste Symphonie Jeremiah (1944 in Pittsburgh) gipfelt in einem Vokalsatz, die dritte Symphonie Kaddish (‚Heiligung‘ im Sinn des Gebets, das am Grab der Toten, bei Gedächtnisfeiern, bei den Gottesdiensten in der Synagoge ebenso angestimmt wird wie zur Verherrlichung Gottes und seines Reiches auf Erden) ist eine Chorsymphonie, uraufgeführt 1963 in Tel Aviv. (Die erste Aufführung der ‚endgültigen Fassung‘ für Orchester, gemischten Chor, Knabenchor, Sprecher und Solosopran fand 1977 in Mainz statt.) Die zweite Symphonie The Age of Anxiety (1949 in Boston) bezieht ihre melodischen Themen aus Audens literarisch-poetischer Vorlage, und das Soloklavier übernimmt hier, in diesem Essay über Einsamkeit, sozusagen den erzählenden, jazzige Elemente einbringenden Part. 1954 entstand Serenade für Solovioline, Streichorchester, Harfe und Perkussion, ein dramatisch-lyrisches Opus, inspiriert von Platons Symposion; die „Musik stellt wie in Platons Dialog eine Reihe miteinander verwandter Aussagen zum Lobe der Liebe dar und folgt der von Platon gewählten Form des Auftretens nacheinander sprechender Figuren der griechischen Intelligenz“ (Bernstein). Die musikalische Form kulminiert in der Verwandtschaft der Sätze untereinander. In diesem System, das jeden Satz sich aus den Elementen des vorherigen entwickeln lässt, erweist sich Bernsteins kompositorisches Verfahren, das in vielerlei Variation unter Einbindung aller sonstigen seine Musik charakterisierenden Zutaten immer aufscheint. Seine Serenade hält er immerhin „für das Beste“, was er geschrieben hat.
Kompositionsmethoden, Erfindung von Motiven und Themen, Variation über alles, Satzbau, Lyrik und Dramatik, Klangfarbendisposition und formale Struktur – all das verbindet Bernsteins symphonische Musik mit seinen Stücken fürs Tanztheater und für den Broadway. Und hätte er auch ‚nur‘ die West Side Story geschrieben, dieses nicht oberflächlich soziale Gegebenheiten der Jetztzeit attackierende Opus mit dramaturgischem Background bei Shakespeare – ein Sonderplatz im Weltranglisten-Fighting um eine günstige Startposition fürs Überzeitliche wäre ihm sicher. Eine Suite Symphonische Tänze aus der West Side Story erinnert immer wieder daran. Und dass Bernstein seine Heimat liebt, belegte er nicht nur in Songfest, jenem Zyklus amerikanischer Gedichte für sechs Sänger und Orchester von 1977, jener der Mutter gewidmeten Liebeserklärung an die Vereinigten Staaten von Nordamerika und ihre Geschichte. 1980 entstand das Divertimento für Orchester, ein originelles, heiter-beschwingtes Stück zeitgenössischer Musik, dem Boston Symphony Orchestra zur Jahrhundertfeier gewidmet, in dem Marsch The BSO [Boston Symphony Orchestra] Forever festgeschrieben. Halil, Nocturne für Soloflöte, Streichorchester und Schlagwerk, ein tonal grundiertes Zwölfton-Opusculum von 1981, ist „dem Geist Yadins und seiner gefallenen Brüder“ gewidmet, jenem begabten israelischen Flötisten, der im Alter von neunzehn Jahren als Verteidiger der israelischen Grenze getötet wurde.
Was außer dem Mediengenie Bernstein und seiner West Side Story den geistigen Transfer ins nächste Jahrtausend überleben wird, muss die Zukunft zeigen. Und auch was mit den Problemen vom „Untergang Gottes und der Tonalität“ passiert. „Davon wird so viel geredet. Gestorben sind nur unsere eigenen abgenutzten Begriffe. Wenn wir Glück haben, werden wir beide Krisen durch neue und freiere Ideen überwinden, die persönlicher – oder sogar weniger persönlich, wer kann das sagen? – sein werden, auf jeden Fall aber mit einer neuen Vorstellung von Gott und einer neuen Auffassung von Tonalität. Und die Musik wird überleben“ – wie Leonard Bernstein hoffnungsfroh formuliert.
Wolf Loeckle

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.