Karol Szymanowski

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t1 Konzertführer
Karol Szymanowski
Karol Szymanowski

Tymoschówka, 24. September (6. Oktober) 1882 – Lausanne, 29. März 1937

Das Aufblühen der nationalen musikalischen Schulen im Osteuropa des 19. Jahrhunderts ging Hand in Hand mit dem Erwachen des politischen Nationalbewusstseins. In Polen etwa ist die Musik Stanisław Moniuszkos oder Frédéric Chopin untrennbar mit der Revolution von 1830 verbunden, die unter der Führung des Leutnants Wysocki versuchte, den regierenden Großfürsten Konstantin – den Bruder und mutmaßlichen Nachfolger des russischen Zaren Alexander 1. – zu stürzen und das Moskauer Joch abzuschütteln. Wenn auch Wysockis Aufstand niedergeschlagen wurde, gab er doch mittelbar Anlass zur Befreiung von der ‚Fremdherrschaft‘ im Bereich der Tonkunst, zur Emanzipation der polnischen Musik von west- und mitteleuropäischen Vorbildern. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber war das nationalmusikalische Idiom zur Schablone verkommen, „war die musikalische Atmosphäre des Landes vergiftet von einem ungesunden Eklektizismus und von dem völligen Fehlen einer eigenständigen Sprache“ (Alexandre Tansman). „Es bedarf einer kühnen und starken Persönlichkeit, die eine universelle musikalische Sprache spricht, um den notwendigen Umschwung herbeizuführen und die Säulen einer wahrhaft nationalen Kunst zu errichten. Es bedarf eines Mannes, der in Polen einen eigenständigen Stil kreiert und dem es gelingt, alle Welt darauf aufmerksam zu machen.“ Diese „kühne und starke Persönlichkeit“ war Karol Szymanowski.

Szymanowski kam am 24. September (6. Oktober) 1882 in dem ukrainischen Dorf Tymoschówka zur Welt und war also bis zum Untergang der österreichischen Monarchie russischer Staatsbürger. Seine frühen Werke – zumeist hochvirtuose Klavierkompositionen – verraten entsprechend deutlich den Einfluss russischer Musik, vor allem den Alexander Skrjabins. Die von Fürst Władisław Lubormirski protegierte Gründung des Komponistenbundes ‚Junges Polen‘, dem sich auch Szymanowski im Herbst 1905 anschließt, bedeutet zwar eine Rückbesinnung auf die nationale Eigenständigkeit der polnischen Musik, doch Werke wie die Konzertouvertüre E-dur op. 12 (1904/05) oder die beiden ersten Symphonien f-moll op. 15 (1906/07) und B-dur op. 19 (1909/10) finden in Polen selbst nur wenig Verständnis ; anders als zum Beispiel Béla Bartók oder Leoš Janáček verwendete Szymanowski folkloristische Vorlagen zunächst nur sporadisch und passte sie so sehr seinem Personalstil an, dass man ihm vorwarf, die Ideale der nationalen Kunst verraten zu haben. Tatsächlich tritt in seiner Musik erst in den zwanziger Jahren das polnische Idiom deutlich und unverfälscht zutage: In mehreren Klaviersammlungen von Mazurken und anderen Nationaltänzen, in dem polnischen Stabat Mater op. 53 (1925/26), in der Ballettpantomime Harnasie op. 55 (1923 bis 1931) nach Themen der Volksmusik der Goralen – der polnischen Bergbewohner der westlichen Karpaten – oder in der vierten Sinfonia concertante intitulierten Symphonie – für Klavier und Orchester – op. 60 (1932), die „im Grundcharakter sehr polnisch“ sei, wie Szymanowski erklärte.

Aus dieser letzten Schaffensperiode des Komponisten stammen auch eine Reihe von Aufsätzen, in denen Szymanowski einer ‚Neuen‘ polnischen Musik das Wort redet und dabei so weit geht, den nationalen Stil Moniuszkos, Chopins und vieler ihrer Epigonen als engstirnigen, bloß imitativen ‚Salon-Folklorismus‘ heftig zu kritisieren: „Unsere Musik muss ihre uralten Rechte wiedergewinnen: unbedingte Freiheit, völlige Loslösung von der Herrschaft der ‚gestern‘ geschaffenen Normen. Möge sie ‚national‘ in ihrer volkstümlichen Eigenständigkeit sein, jedoch ohne Furcht dorthin streben, wo die von ihr geschaffenen Werte zu allgemeinmenschlichen Werten werden; möge sie ‚national‘ sein, aber nicht ‚provinziell‘. Zerstören wir die ‚gestrigen Dämme‘, die aus Trotz errichtet wurden, um die besagte Eigenständigkeit gegen fremde Einflüsse zu schützen. Fürchten wir das Heute nicht, denn wir haben eiserne Muskeln und harte Fäuste...“ (Karol Szymanowski: Bemerkungen zu zeitgenössischen Auffassungen über die polnische Musik. 1920).

Vorerst aber stößt Szymanowski mit seiner „heutigen“ Musik bei dem „gestrigen“ polnischen Publikum auf solchen Widerstand, dass er 1911 nach Wien übersiedelt; hier findet am 18. Januar 1912 ein ausschließlich seinen Werken gewidmetes Konzert statt – unter anderem stehen die zweite, von Grzegorz Fitelberg dirigierte Symphonie und die zweite Klaviersonate A-dur op. 21 auf dem Programm, die Artur Rubinstein spielt –, das Szymanowski quasi über Nacht berühmt macht und ihm einen (später verlängerten) Zehn-Jahres-Vertrag mit der Wiener Universal-Edition vermittelt: Das vorläufige Ende der materiellen Sorgen. Aber auch in anderer Hinsicht ist die Zeit in Wien überaus fruchtbar: Szymanowski kommt mit der Musik Strawinskys, Mahlers, Debussys, Ravels, Schrekers und des Schönberg-Kreises in Berührung, unter deren Eindruck er sich mehr und mehr dem ‚Internationalismus‘ öffnet. Außerdem entdeckt er den Zauber der Kultur und Philosophie des Orients, der in mehreren Werken seinen Niederschlag findet: In den Zyklen Des Hafis Liebeslieder op. 24 (1911) und op. 26 (1914), in dem Opern-Einakter Hagith op. 25 (1912/13) und vor allem in der dritten Symphonie – Das Lied der Nacht – op. 27, nach Gedichten von Mevlan Dschelaleddin Rumi (1914). Der arabeske Stil jenseits des traditionellen tonalen Gefüges, zu dem Szymanowski hier auf Grund außermusikalischer Anregungen gefunden hat, bestimmt auch weiterhin seine Tonsprache; die beiden Klaviertriptychen Metopen op. 29 (1915) und Masken op. 34 (1915/16) und die dritte Klaviersonate op. 36 (1917) arbeiten mit pentatonischen und sogar ansatzweise seriellen Konstellationen des Tonmaterials, die dem Zeitgeist einer (wie auch immer verstandenen) Avantgarde durchaus entsprechen.

Als Szymanowski im Dezember 1919 nach Warschau zurückkehrt, sind die „gestrigen Dämme“ endgültig abgetragen, durch die sich die polnische Kultur gegen alle Fremdeinflüsse schützen zu müssen geglaubt hatte. Der Rang des Komponisten als weltweit bedeutendster Repräsentant der polnischen Moderne – gefördert durch zwei ausgedehnte Konzertreisen Szymanowskis (1920/21 und 1921/22), die seine Musik in den USA, in London und in Paris vorstellen – wird nun auch in seiner Heimat erkannt und anerkannt, und die Warschauer Uraufführung seiner Oper König Rogen op. 46 am 12. Juni 1926 gestaltet sich zu einem wahren Triumph. 1927 wird Szymanowski daraufhin die Leitung der Warschauer Musikakademie angetragen, die er freilich erst nach langem Zögern akzeptiert; und wirklich soll er diesen Schritt bitter bereuen: Seine Bemühungen, das Unterrichtssystem und die Musikausbildung zu reformieren, stoßen bei den erzkonservativen Köpfen des polnischen Musiklebens auf so heftige Widerstände, dass er im Sommer 1929 resigniert sein Amt niederlegt, und auch ein zweiter Versuch (1930 bis 1932) hat nur ein neuerliches Scheitern zur Folge. Was bleibt, ist eine Abhandlung über Die erzieherische Rolle der Musikkultur in der Gesellschaft, in der Szymanowski die Grundlagen seiner Reformidee zusammenfasst; sie gipfelt in der Forderung nach einer Rückbesinnung auf die ethische Kraft der Musik als „Geistesnahrung im Kampf gegen die Unwissenheit und Barbarei der Massen“.
Trotz internationaler Anerkennung belasten nun wieder materielle Sorgen so sehr das Leben des Komponisten, dass er in den Jahren 1933 bis 1935 zahlreiche Konzertreisen kreuz und quer durch Europa unternehmen muss, um existieren zu können. Damit bleibt auch für neue Werke nur wenig Zeit; die beiden 1933 und 1934 entstandenen Klavier-Mazurken op. 62 beschließen Szymanowskis Oeuvre. Die Strapazen der Tourneen untergraben überdies zunehmend seine ohnehin (seit einer frühen Tuberkulose) labile Gesundheit, und auch ein Kuraufenthalt in Grasses in Südfrankreich kann nur Linderung und keine Heilung mehr bringen: Vom Knochenmark greift die Krankheit auf den Kehlkopf, dann auf das Lungengewebe über. „Ich kann gar nicht mehr sprechen, das Essen fällt mir sehr schwer und ich nehme immer mehr ab“, schreibt der Komponist in einem seiner letzten Briefe. Szymanowski stirbt am 29. März 1937 in einem Sanatorium in Lausanne.

Er sei „eine nicht gerade energische Natur“, schreibt Karol Szymanowski in einem seiner Briefe über sich selbst. Ein Einzelgänger, der keiner musikalischen Schule, keinem Stil anzugehören scheint. Zahllose Facetten, die doch kein geschlossenes Bild ergeben, die sich auf verschiedenste Weise interpretieren lassen; kurz vor seinem Tod skizzierte Szymanowski ein autobiographisches Tagebuch – kein ‚Seelenbekenntnis‘, sondern ein erschreckend distanzierter Versuch der Selbstfindung: „Innerhalb des Komplexes der Ereignisse, die mein Leben bilden, muss ich eine der ‚Interpretationen‘ wählen und mich bei ihrer Wahl von einem gewissen Nützlichkeitsstandpunkt leiten lassen, von der Frage, was in meinem Wesen den entscheidenden dynamischen und aktiven Faktor bildet.“ Doch die Wahl ist unmöglich: „Ich stehe einigermaßen ratlos vor dem gewaltigen Reichtum meines inneren und äußeren Lebens und weiß im Voraus, dass ich jene ‚magische Formel‘ nicht finden werde.“ Szymanowski ist und bleibt sich selbst ein Fremder, so wie er immer und überall – künstlerisch und politisch – in die Rolle eines Entwurzelten, Heimatlosen, Vertriebenen gedrängt wird. Im ständigen Kampf um das Überleben und Bewahren des Eigenen (so fremd es auch sein mag) wird Szymanowski zum egozentrischen, verschlossenen Hypochonder: Fotos, auf denen er lächelt, gibt es kaum, der Tonfall seiner Briefe ist freundlich, aber letzthin unverbindlich. Das Wesen erschöpft sich im Werk.

Die Evolution seiner Musiksprache spiegelt sich vielleicht am deutlichsten in Szymanowskis Violinkompositionen wider: Die frühe Sonate d-moll op. 9 (1904) und die Romanze D-dur op. 23 (1910) stehen noch ganz in der Tradition der russischen und deutschen Spätromantik. Notturno und Tarantella op. 28 (1915) und die drei für Violine und Klavier eingerichteten Paganini-Capricen op. 40 (1918) zeigen eine extrovertierte Virtuosität, wie sie auch in zahlreichen Klavierwerken zu finden ist, während in den drei Mythen op. 30 (1915) und in der Berceuse d'Aïtacho Enia op. 52 (1925) antike und orientalische Parameter ihren Niederschlag finden. In den beiden Violinkonzerten op. 35 (1916, angeregt von dem Poem Die Mainacht des polnischen Dichters Tadeusz Miciński) und op. 61 (1932/33) aber verschmelzen alle diese Strömungen zu einer großartigen Einheit, zur ‚magischen Formel‘ eines unverwechselbaren Personalstils: Eine bei aller Dichte und Farbigkeit überaus durchsichtige Orchestration; expressive rhythmische Ostinati unter ständig wechselnden Melodie- und Harmoniestrukturen, in denen immer wieder rudimentär folkloristische Sekund-, Quart- und Quintparallelen dominieren; phrasenübergreifende Synkopenschichtungen, die auch die geschlossene Form der beiden einsätzigen Konzerte prägen. Eine Musik außerhalb aller Traditionen, „die Improvisation eines Wanderers, der immer weiter zu neuen Ufern und neuen Kontinenten strebt“ (Karol Szymanowski).
Michael Stegemann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.