Symphonien 1771-1772

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t1 Konzertführer
Joseph Haydn
Symphonien 1771-1772

1771: Nr. 44, 52, 43, 42, 51
1772: Nr. 45, 46, 47
Nach seiner einzigen längeren Krankheit um 1770 holte Haydn in den folgenden beiden Jahren zum Durchbruch seiner musikalischen Individualität aus, und zwar gleich auf seinen beiden Hauptgebieten: Er schrieb die Streichquartette op. 17 (1771) und op. 20 (1772) und eine Gruppe von acht Symphonien, die zum Faszinierendsten gehören, was er überhaupt komponierte. Mit den Streichquartetten op. 20 lässt er alle Zeitgenossen weit hinter sich zurück, und in den Symphonien radikalisiert er die Wiener Symphonik, von der er ja in erster Linie herkommt, gleichsam von innen heraus, denn die formalen Experimente der früheren Symphonien sind nun weitgehend ausgeschöpft. Die Norm der Viersätzigkeit (und vorerst noch weiterhin der Besetzung ‚a8‘) hat sich endgültig als zweckmäßig durchgesetzt; jetzt richtet Haydn sein Augenmerk ganz auf die Verfeinerung des Ausdrucks und des musikalischen Inhalts. Das Experimentierfeld ist nun die musikalische Haltung. Tatsächlich ist jede dieser acht Symphonien ein ‚Charakter‘, ein Werk individueller Physiognomie. Dass Haydn zuweilen recht rauhe Töne anschlägt, wie zuvor schon in der Symphonie Nr. 49, zeigt seinen Drang, mit der konventionellen Unterhaltungskunst Schluss zu machen und die Symphonik – zumindest in dieser Phase und später in London wieder – als musikalischen Ernstfall zu betrachten. Die Reihe beginnt denn auch mit einer Symphonie in e-moll (Nr. 44), die den neuen Ton der Emanzipation von der höfischen Zweckbestimmung, zumindest der kompositorischen Intention nach, programmatisch exponiert. Der Beiname Trauersymphonie indessen, eine Frucht des 19. Jahrhunderts, führt in die Irre; er kann sich lediglich auf eine Aussage Haydns stützen, er wolle, dass der Adagio-Satz in E-dur zu seinem Begräbnis gespielt würde. Ansonsten haben die unerbittliche Strenge der Ecksätze und der konstruktive Ansatz des Menuetts (Kanon in der Oktave) nichts zu tun mit ‚Trauer‘. Die Aufwertung fast aller langsamen Sätze dieser Phase zu verinnerlichten Adagios und die Stilisierung des Menuetts zum Charakterstück, teilweise mit konstruktiven Verfahren durchsetzt, die im Fall der Symphonie Nr. 47 G-dur (die letzte der Reihe) das gesamte Menuett einschließlich Trio ergreift, indem beide als musikalische Palindrome angelegt sind, ein Triumph und eine demonstrative Hervorkehrung der kompositorischen Arbeit also – dies alles und die weitere Vertiefung der Kopfsätze spricht für die Annahme, dass der ‚Sturm und Drang‘ für Haydn eine der wichtigsten innovatorischen Phasen überhaupt war. Zum ersten Mal schreibt er – im Kopfsatz der Symphonie Nr. 44 – ein Allegro con brio vor, was auch durchaus metaphorisch zu verstehen ist, denn dieser Satz überrennt in seiner Kontrastschärfe – abtaktiges Unisono, gefolgt von auftaktiger, melodischer Phrase, die mit nervös pochenden Achteln begleitet wird – alles bisher Dagewesene und zeigt ein neues einheitsstiftendes Moment neben dem früheren monothematischen Verfahren: die Unerbittlichkeit der einmal angeschlagenen Grundhaltung.

Die Symphonie Nr. 52 c-moll gleicht einer „feurigen Explosion“ (Robbins Landon) und steht in ihrer düsteren Haltung völlig abseits der Konvention. Das ‚Originalgenie‘ Haydn verschafft sich ausdrücklich Gehör, besonders in dem konzentrierten Finale mit seinem harten Wechsel von laut und leise (ohne Zwischenstufen) und in dem überaus merkwürdigen Charaktermenuett, das sich aus einer obsessiven Gestalt heraus entfaltet, die auch – in Dur – das Trio bestimmt. Das Andante, in der neutralen Tonart C-dur, lässt zu Beginn noch nicht ahnen, dass es alles andere als simpel ist; erst im Verlauf enthüllen sich die tieferen Züge und die subtilen Verfeinerungen in satztechnischer und harmonischer Hinsicht. Haydn befolgt auch hier sein einmal erreichtes Prinzip des inneren Gleichgewichts der Sätze zueinander. Das wilde Treiben des ersten Satzes, die pulsierende Grundbewegung, wird in erstaunlicher Weise in der Exposition zweimal (!) durch ein Seitenthema unterbrochen, das nicht nur ein eigener, kontrastierender Charakter ist, sondern deutlich durch eine Generalpause vom übrigen abgesetzt wird. Die Passage vorher ist ebenfalls eine neue Gestaltungsidee: eine auskomponierte Beschleunigung. Am Schluss der Reprise ereignet sich der Ansatz zu einer inhaltlich motivierten Coda: Nach einem auskomponierten Fragezeichen, einem ‚sprechenden‘ Mittel der inneren Formartikulation von großer Tragweite für spätere Gestaltungsweisen Haydns, erfolgt ein abrupter, mürrischer Schluss, der die Tür hinter dem Satz zuschlägt und nichts mehr mit konventionellen Schlusswendungen zu tun hat. Diese Tendenz zur bewussten Coda verfolgt Haydn in der Symphonie Nr. 43 Es-dur, in deren Finale, noch weiter; dort umfasst sie sogar vierzig Takte. Überhaupt gehört diese nur bei oberflächlichem Hören unscheinbare Symphonie zu den interessantesten der Reihe, zumal Haydn mit feinsten harmonischen Mitteln Periodengrenzen verschiebt, Kadenzen hinauszögert und motivische Umbelichtungen vornimmt, die weit in die Zukunft weisen. Der seltsame Titel Merkur ist weder authentisch noch ist seine Herkunft geklärt. Wie in den Kopfsätzen der Symphonien Nr. 35 und 39 ist das Seitenthema eine Variante des Hauptthemas, ja es kehrt sogar als Menuett-Thema wieder. Das Menuett gehört übrigens zu den zartesten, die wir von Haydn überhaupt kennen, und es schließt auch mit einer leisen Passage. Im Adagio verwendet Haydn den innigen Tonfall von As-dur und schafft damit ein Gegengewicht zu den anderen, verhaltenen Sätzen.

Der neue, empfindsame Tonfall führte dazu, dass Haydn sich im Autograph der Symphonie Nr. 42 D-dur eigens von der ‚gelehrten‘ (das heißt kontrapunktischen) Schreibart distanzierte. Er strich im Andantino e cantabile einige Takte und fügte die Bemerkung hinzu: „Dieses war vor gar zu gelehrte Ohren!“ Das heißt aber nicht, dass die Symphonie im ‚leichten‘ Genre geschrieben sei, sondern sie wendet die Verhaltenheit und Subtilität der vorigen (Nr. 43) ins Äußerliche, ja ‚Theatralische‘. Der erste Satz beginnt wie eine Bühnenmusik, führt aber alsbald auf Abwege, wie zum Beispiel eine komplizierte Modulation zur Dominante als auskomponierte Parenthese oder zu einer außerordentlich umfangreichen und vielgestaltigen Durchführung, in der sich eine Besonderheit des Haydnschen Formbewusstseins bemerkbar macht: die Scheinreprise. Ansätze dazu gab es schon bei den frühen Symphonien (in Nr.17, 19, 22 und vor allem in der Mitte des ersten Satzes der Symphonie Nr. 41), aber erst hier hebt Haydn die Scheinreprise, also den vorzeitigen Eintritt der Haupttonart und des Hauptthemas, als Ereignis eigens hervor, indem er sie nach einer Fermate eintreten lässt. Den innovatorischen Höhepunkt der Symphonie bildet jedoch das Finale, das immerhin das Modell abgibt für solche Finalsätze wie etwa dem der Symphonie Nr.101, denn es ist zum ersten Mal ein Variationsrondo, eine jener für Haydn typischen Formerfindungen und -mischungen, die den Vorwurf, er schreibe ja doch nur ‚Kehraus‘-Finali, eines Besseren belehren. Eigentlich müsste der Satz auch die Bezeichnung ‚con spirito‘ tragen und nicht nur die tatsächliche Vorschrift ‚Scherzando e presto‘.

Eine weitere Überraschung bietet der Kopfsatz der Symphonie Nr. 51 B-dur, denn er ist in den (ohnehin für Haydn kaum zutreffenden) Kategorien des Sonatensatzes nur noch mit Mühe fassbar: Das Hauptthema besteht aus einem ‚offenen Anfang‘ im Unisono, einer kantablen Linie, die zur Dominante führt und einem Unisono-Terzfall, der das Nicken der Komturstatue in Mozarts Don Giovanni vorwegnimmt (im Menuett der Symphonie Nr.102 kehrt es wieder!); der erste Tutti-Ausbruch steht unvermittelt in g-moll, und statt eines Seitenthemas gibt es eine überaus seltsame Schlussgruppe, deren kantables, absteigendes Schlussmotiv am Ende des Satzes in aufsteigender Linie die Abschlusswirkung herbeiführt. Wieder hören wir Haydns seismographisches Formgefühl ausschlagen. Die großangelegte Durchführung bietet alle Künste des „Wegschneidens“ und „Wagens“ auf, von denen Haydn in seiner bereits erwähnten Erklärung seines Schaffens spricht. Auch hier ereignet sich eine Scheinreprise, aber diesmal noch versteckter, in der Subdominante. Das Adagio ist ein Konzertsatz, also ein Rückgriff auf eine frühere Formidee, aber mit einer klanglichen Neuheit: die konzertierenden Hörner stoßen durch den Gegensatz von extremer Höhe und Tiefe vor in Bereiche, die erst dem ‚romantischen‘ Orchestersatz zugehören.
Mit der berühmten Symphonie in der entlegenen Tonart fis-moll, der sogenannten Abschiedssymphonie (Nr. 45) erreicht Haydn einen ersten absoluten Höhepunkt. Die bekannte Anekdote, die von dem äußeren, rührenden und nicht ungefährlichen Anlass berichtet, soll uns hier nicht weiter beschäftigen, doch sei immerhin vermerkt, dass sie ein Licht auf Haydns humane Haltung wirft, die man unter Komponisten sonst nur sehr selten findet. Was die Symphonie so einzigartig macht, ist nicht nur die Formidee des Finales, das auskomponierte Verlöschen, sondern die ungewöhnlich schroffe Haltung des ersten Satzes, der im Grunde eine einzige riesige Durchführung ist, in deren Zentrum, und zwar völlig unvorhersehbar, das Seitenthema ‚nachgeholt‘ wird, für den Satzverlauf aber keine weiteren Konsequenzen erschließt. Wie eine Zange umklammert das Hauptthema den ganzen Satz. Der Tonfall des ‚Sturm und Drang‘ kommt hier zu sich selbst. Die unbeschreibliche Lieblichkeit des Adagios wird durchkreuzt von gezielt eintretenden, klagenden Einwürfen der beiden Oboen, und das in der verwegenen Tonart Fis-dur geschriebene Menuett entfernt sich am weitesten von dem Tanzcharakter, den man erwartet. Die Höhe dieser Symphonie war die Hypothek, mit der Haydn an die letzten beiden Symphonien des Jahres 1772 heranging. Wie eine ‚Erholung‘ nach dem angespannten Tonfall wirkt die Symphonie in der für Haydns Symphonik singulären Tonart H-dur (Nr. 46), aber auch hier schreitet Haydn unaufhörlich in der Erkundung des Symphonischen weiter: Zum ersten Mal greift er im Finale auf das Menuett zurück, doch nicht als ‚Zitat‘, sondern als Antwort, denn das Thema des Menuetts tritt in Spiegelform auf. Dennoch ist die Symphonie keine Final-Symphonie; dazu ist der Kopfsatz zu gewichtig. Aber es ist eine neue Lösung des Finalproblems jenseits vom ‚Kehraus‘. Die Wahl der Tonart mag übrigens auf die Wiener Tradition zurückgehen, etwa auf Matthias Georg Monns Streichersymphonie in H-dur. Die Symphonie Nr. 47 G-dur ist eine von drei Symphonien Haydns, die Mozarts besonderes Interesse weckten. Man kann es verstehen, denn der irreguläre, überraschende Ablauf des ersten Satzes mit einer Reprise, die verblüffend in g-moll (!) eintritt, und die stilisierte Marschhaltung des Ganzen, ferner die überaus kühne Harmonik (hinausgezögerte Auflösungen von Dissonanzen, etwa gleich im Hauptthema) und die konzentrierte, ja geradezu herrische Haltung mochten Mozarts eigenes kompositorisches Selbstbewusstsein angesprochen haben, möglicherweise der unwiderstehliche Schmiss des ‚ungarischen‘ Finales auch. Von dem außerordentlichen Menuett ‚al roverso‘ war bereits die Rede. Der langsame Variationensatz schließlich ist eines der schönsten Adagios, die Haydn komponierte.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.