Symphonie Nr. 4 e-moll op. 98

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t1 Konzertführer
Johannes Brahms
Symphonie Nr. 4 e-moll op. 98

Die vierte Symphonie e-moll op. 98 ist Gipfel und Endpunkt des orchestralen Oeuvres von Johannes Brahms. In ihr kulminieren und verbinden sich noch einmal jene beiden Kompositionsprinzipien, die charakteristisch für sein gesamtes Schaffen sind: Brahms‘ Variationstechnik und seine Rückwendung zu alten Formen, in denen er seine Werke gleichsam verankerte. Brahms‘ letzte Symphonie entstand in den Sommermonaten der Jahre 1884 und 1885 in Mürzzuschlag am Semmering, wobei – einer Kalendernotiz zufolge – der Schlusssatz dem Scherzo vorausging. Die Uraufführung erfolgte am 25. Oktober 1885 durch das Meininger Hoforchester unter Brahms‘ eigener Leitung.

Wie bestürzend ungewohnt das über alle traditionellen Vorstellungen von Gestalt und Gestus einer Symphonie radikal sich hinwegsetzende Werk für die Zeitgenossen geklungen haben muss, lässt sich aus der zurückhaltenden bis ratlosen Reaktion von Brahms‘ Freundeskreis erkennen. So schrieb Elisabeth von Herzogenberg am 30. September 1885 (!) an den Komponisten: „Es ist mir, als wenn eben diese Schöpfung zu sehr auf das Auge des Mikroskopikers berechnet wäre, als wenn nicht für jeden einfachen Liebhaber die Schönheiten alle offen da lägen, und als wäre es eine kleine Welt für die Klugen und Wissenden.“ In der Tat sind die gedankliche Konzentration, die Verdichtung der motivisch-thematischen Arbeit, die konstruktive Verklammerung der Sätze untereinander in der vierten Symphonie beispiellos und reichen an die Grenzen dessen, was dem 19. Jahrhundert möglich war. Was Arnold Schönberg später in Brahms einen „Fortschrittlichen“ erkennen ließ, die „entwickelnde Variation“ – in diesem Werk ist sie in reinster Form verwirklicht.
Die Symphonie hebt – völlig unspektakulär, fast beiläufig – in den Violinen mit einer Melodie an, die in ihrer Struktur aus einer Kette von sieben fallenden Terzen besteht. Und die Terz ist denn auch der thematische Kern der ganzen Symphonie, aus der sich nahezu alle wichtigen musikalischen Gestalten entwickeln, auch das Hauptmotiv des Seitenthemas im ersten Satz etwa, das Clara Schumann „so eigensinnig und so gar nicht sich anschmiegend an das Vorhergehende“ erschien.
So ist auch der Sonatensatz dieses Allegro non troppo keine Auseinandersetzung zweier gegensätzlicher Themen, die sich in der Reprise löst, sondern eine beständige „entwickelnde Variation“ eines thematischen Kerns in verschiedenen Gestalten. ‚Durchführung‘ ist gewissermaßen der ganze Satz. An einigen wenigen Stellen jedoch hält die beständige Bewegung, in der sich der Satz befindet, unvermittelt an, bleibt für einen Moment in Entrückung die Zeit stehen. Diese plötzlichen Einbrüche gehören zu den befremdlichsten und zugleich anrührendsten Momenten des Kopfsatzes.

An diese ‚romantische‘ Aura knüpft das Andante moderato an. In ruhiger Bewegung und fein differenziert in der Disposition der Klangfarben – das erste, phrygisch anmutende Thema (ebenfalls von der Terz abgeleitet) gehört meist den Bläsern an, das zweite, getragen fließende, den Streichern – entsteht eine sanfte, melancholische Stimmung. Freilich brechen in diese bald mit massiver Wucht fortissimo die Streicher ein, der Satz steigert sich zu größter Erregtheit, die auch dann noch nachklingt, wenn – wieder beruhigt – das zweite Thema in sattem dunklem Streicherglanz erklingt, ganz Wohlgefühl ausstrahlend. Und auch in der leise verklingenden Coda ist die emotionale Aufwallung des Mittelteils noch nicht ganz vergessen.
Jedoch, vor der romantischen Emphase, vor der Emotion rettet sich Brahms in die sardonische Heiterkeit des dritten Satzes, eines grimmigen Scherzos im Allegro giocoso, das nur ganz selten in lyrische Bahnen gelenkt wird. Schroff platzen die gegen das Metrum verschobenen harten Rhythmen des Themas heraus, starr stehen die Akkordblöcke gegeneinander – eine Maske des Grimms, hinter der Brahms sich verbirgt.
Gebändigt ist die Aufwallung des dritten Satzes in der großartigen und strengen Architektur des vierten. Aus einem achttaktigen Thema, das er (leicht chromatisiert) Bachs Kantate Nach dir, Herr, verlanget mich entlieh, entwickelt Brahms eine Passacaglia, deren konstruktive Rigorosität die des Kopfsatzes noch übertrifft. Keine bloße Reihung von Variationen verschiedenen Charakters über einen gleichbleibenden Bass jedoch beabsichtigte Brahms. Und so wölbt sich über die dreißig Variationen der barocken Passacaglia ein Sonatensatz des 19. Jahrhunderts; bildet das durchweg präsente Thema (das lediglich im ruhigen Mittelteil im Gewebe sich verbirgt) das harmonisch-melodische Fundament für einen symphonischen Satz von höchster Ausdrucksdichte und -variabilität. Am Ende schließlich, vor der Schlussstretta, die den angestauten Energien freien Lauf lässt, schlägt der Satz den Bogen zurück zum Anfang. In der Kombination von Passacaglia-Thema und der Terzenkette des Kopfsatzes schließt sich die Symphonie zu einem integralen Ganzen zusammen.

Die Passacaglia der vierten Symphonie setzt nicht nur einen Schlusspunkt unter Brahms‘ symphonisches Werk, auch jener Zweig der Gattung, den im 19. Jahrhundert Schumann, Mendelssohn und Brahms repräsentierten, ist hier an seinem Ende angelangt. In der Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart wird die vierte Symphonie jedoch zugleich zum Boten der Zukunft.
Rainer Pöllmann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.