Klavierkonzert Nr. 1 d-moll op. 15

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t1 Konzertführer
Johannes Brahms
Klavierkonzert Nr. 1 d-moll op. 15

Das erste Klavierkonzert ist das zentrale Stück der Sturm-und-Drang-Zeit des Komponisten. Zugleich zeigt seine lange und verwickelte Entstehungsgeschichte, mit welchen künstlerischen Skrupeln bereits der junge Brahms zu kämpfen hatte. Schumanns Selbstmordversuch am 27. Februar 1854, die vergebliche, nie erwiderte Zuneigung Brahms‘ zu Clara Schumann und das aufwühlende Erlebnis der neunten Symphonie Beethovens, dies alles schmolz in jenem eruptiven, mächtig ausladenden musikalischen Einfall zusammen, mit dem das Konzert auch in der endgültigen Fassung so gänzlich symphonisch beginnt. Gustav Mahler wird sich knapp fünfzig Jahre später im ersten Satz seiner dritten Symphonie daran erinnern. Der Einfall des erst einundzwanzigjährigen Brahms erwies sich jedoch als derart elementar, als gleichsam ‚abstrakt‘, dass seine klangliche Gestalt und formale Entwicklung nicht auf Anhieb gelingen wollte. Erst ein langer, zäher Arbeitsprozess kristallisierte das Klavierkonzert so heraus, wie wir es heute kennen.

Der erste Ansatz, dem unmittelbaren Einfall klangliches Relief zu geben, war der Entwurf einer – im Übrigen verschollenen – Sonate für zwei Klaviere, also für das Instrument des Komponisten, der noch keine Erfahrungen mit dem Orchestersatz hatte. Noch im Entstehungsjahr (1854) bemerkte Brahms dazu: „Eigentlich genügen mir nicht einmal zwei Klaviere.“ Er spürte die unerhörte Expansionskraft, die in dem Einfall steckte. In einem zweiten kompositorischen Ansatz schaltete er zunächst einmal den Klavierklang völlig aus und versuchte, die farbigere Palette des Orchesters einzusetzen. Doch hinderten ihn seine mangelnden Kenntnisse im Umgang mit dem großen Orchesterapparat an einem zufriedenstellenden Ergebnis. Deshalb entschloss sich Brahms Anfang 1855, den Zwiespalt zwischen dem Ungenügen des reinen Klaviersatzes und den fatalen Folgen einer nachträglichen Instrumentierung dadurch aufzuheben, dass er eine Umarbeitung des bisher Erreichten zu einem Klavierkonzert ins Auge fasste, in dem nun beide Klangbereiche zu höherer und komplexer Einheit verbunden werden konnten. Allerdings begab er sich hiermit in die Gefahr, dem symphonischen Expansionsdrang des Ureinfalls die Gesetze des Konzertprinzips aufzwingen zu müssen. Dies wog umso schwerer, als ja das nach-beethovensche Solokonzert eher virtuos als symphonisch orientiert war, die Artistik des Solisten über dem Orchester brillieren wollte und das Orchester zur reinen Begleitung verkam.

Bis ins Jahr 1856 hinein beschäftigte sich Brahms mit dem ersten Satz des großangelegten Klavierkonzerts. Doch erst ein Jahr später, nachdem das Adagio – in Brahms‘ eigenen Worten ein „sanftes Porträt“ Clara Schumanns – und die erste Fassung des letzten Satzes fertiggestellt waren, betrachtete er die Arbeit am umfangreichen Kopfsatz als abgeschlossen. Mit dem ausdrücklichen symphonischen Habitus des Finalsatzes, mit seiner Mischung aus Sonaten- und Rondoform, bekundete Brahms die deutliche Abkehr vom herrschenden Virtuosenkonzert. Bis zur öffentlichen Uraufführung in Hannover mit Brahms als Solisten ging das Ausfeilen der Partitur, namentlich der Instrumentation. Das Ergebnis zeigte denn auch den Lohn der fünfjährigen Mühen: ein in der Konzertliteratur des 19. Jahrhunderts einzigartiges Werk.

Selten hat sich Brahms so ungedeckt dem musikalischen Ausdruck überlassen wie hier; der donnernde Triller und die herrisch-pathetische Geste des Anfangs stehen als eindrucksvolle Beispiele dafür ein. Die Gewalt dieses Anfangs ist beispiellos. Die Weite der symphonischen Anlage des Konzerts könnte kaum besser angeschlagen werden. Erstaunlich ist die Fähigkeit des jungen Komponisten, schließlich doch das Prinzip des Konzertierens, den Wechsel von Orchesterritornellen und Soloepisoden, mit der symphonischen Entwicklung zusammenzubringen, ohne dass Brüche hörbar würden. Die thematische Substanz erforderte in diesem Fall, zumindest im ersten Satz, eine symphonisch ausgreifende Orchesterexposition und – als Kontrast – die Ausschweifung der Soloepisoden zu thematischen Abschnitten eigenen Rechts. Denn die formale Schlüssigkeit eines Mozartschen Konzertsatzes war unwiederbringlich dahin. Brahms schuf stattdessen eine Art

„Gruppierung melodischer Gedanken um thematische Schwerpunkte“ (Carl Dahlhaus). Um die solcherart anvisierte epische Breite nicht gar ins Unermessliche zerfließen zu lassen, konstruierte Brahms den musikalischen Zusammenhang in größtmöglicher Strenge aus und nahm damit Verfahren vorweg, die ihn später zum Vorläufer Schönbergs werden ließen. Die wie improvisiert herausgeschleuderte Anfangsgeste wird konstruktiv zusammengehalten durch einen chromatisch absteigenden Bassgang, der die ersten 25 Takte umfasst; die Grundtonart d-moll wird dabei nicht auskadenziert, sondern nur umschrieben. Das Gefühl des Harmonisch-Vagen, das mit der improvisatorischen Geste übereinstimmt, erhält also seinen Rückhalt durch eine subkutane kompositorische Idee, die an das Bassfundament einer barocken Passacaglia erinnert. Solche Verfahren des musikalischen Zusammenhangs werden später die gesamte Arbeit von Brahms wesentlich bestimmen.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.