Orchesterwerke

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t1 Konzertführer
Jean Sibelius, Johann Sebastian Bach
Orchesterwerke

Sibelius, der mit den klanglichen und technischen Möglichkeiten der Violine sehr vertraut war, schrieb einige Werke für Violine und Orchester: die Serenaden D-dur und g-moll op. 69 (1912/13), die Humoresken op. 87 und 89 (1917) und das Violinkonzert d-moll op. 47 (1903, revidiert 1905), das vor allem auf Grund des dankbaren virtuosen Soloparts immer noch seinen festen Platz im Repertoire hat. In der dreisätzigen Anlage folgt das Konzert der Tradition, während im Aufbau der einzelnen Sätze Sibelius überwiegend eigene Wege geht: Der Kopfsatz, der mit drei Themen arbeitet, ist weitestgehend rhapsodisch gehalten – charakteristischerweise tritt an die Stelle der obligaten Durchführung eine auskomponierte Kadenz –, während das Finale, das in der Art eines stilisierten Nationaltanzes gehalten ist, mit zwei kontrastierenden Themen nach dem Schema: Einleitung-A-B-A'-B'-Coda verfährt; statt einer Durchführung erscheint also wieder die variierte Wiederholung der beiden Themen. Dunkles Kolorit, modale Einfärbungen und schwerblütiges Melos sind auch für dieses Werk symptomatisch, das man damit der spätromantischen Phase der ersten beiden Symphonien zurechnen muss.

Im Gegensatz zu Berlioz, Liszt oder Strauss hat Sibelius bei seinen Tondichtungen nicht auf die Weltliteratur zurückgegriffen; von wenigen Ausnahmen abgesehen, diente ihm das finnische Nationalepos als alleinige Inspirationsquelle. In den seltensten Fällen ging es dem Komponisten um die musikalische Schilderung von Vorgängen oder Handlungen; insofern spielt die musikalische Deskription eine untergeordnete Rolle; an die Stelle der Illustration tritt die Reflexion. Diese Ästhetik mag auch der Grund dafür sein, dass die Programme fast immer vage gehalten, gelegentlich sogar unterdrückt sind. Schon die erste symphonische Dichtung En Saga op. 9 (1892) entbehrt eines konkreten programmatischen Bezugs; man darf lediglich annehmen, dass Sibelius ganz allgemein durch den Kalevala-Mythos zu dieser Komposition angeregt wurde. Auf Grund der schlechten Kritik zog er die Partitur zurück und publizierte zehn Jahre später eine revidierte Fassung. Einige typische Stilmerkmale haben sich bereits herausgebildet: breitangelegte Entwicklungen, Reperkussionsmelos, Ostinati, Monorhythmik, dunkel timbriertes Kolorit. Von den vier Legenden der Lemminkäinen-Suite op. 22 (1893 bis 1895) gehen drei Stücke, nämlich ‚Lemminkäinen und die Mädchen auf Saari‘, ‚Lemminkäinen in Tuonela‘ und ‚Lemminkäinen zieht heimwärts‘ auf verschiedene Runen des Kalevala zurück, in denen die Abenteuer Lemminkäinens, des Siegfrieds der finnischen Mythologie, geschildert werden. Der Schwan von Tuonela, fraglos die bekannteste der vier Legenden und ursprünglich als Vorspiel zu der Oper Der Bootsbau geplant, ist hingegen als klangliche Vision vom Totenreich der finnischen Mythologie zu begreifen, wobei das Singen des Schwans durch ein expressives Englischhornsolo verkörpert wird. Die Tondichtung Finlandia op. 26 (1899, revidiert 1900) verdankt ihre Entstehung jener patriotischen Bewegung, die 1899 ihre Proteste gegen die von Zar Nikolaus II. forcierte Russifizierung Finnlands unter dem Deckmantel sogenannter ‚Pressefeiern‘ artikulierte. Das Stück, das gewissermaßen den Rang einer inoffiziellen Nationalhymne einnimmt, enthält alle für dieses Genre typischen Topoi: erhabene Choralklänge, schmetternde Fanfaren, hymnische Melodien, sodass es sich rasch in der ganzen Welt verbreitete. In den Tondichtungen Die Dryade op. 45 Nr. 1 (1910) und Die Okeaniden op. 73 (1913) hat Sibelius einige bekannte Gestalten der griechischen Mythologie porträtiert, ohne dass ein konkretes Programm zugrunde läge. Pohjolas Tochter op. 49 (1906) hingegen geht auf die Runen 6 bis 8 des Kalevala zurück, in denen die Abenteuer des Sängers Wäinamöinen auf seiner Reise nach Lappland erzählt werden; eine Verbindung zu den eben genannten Tondichtungen besteht insofern, als in Pohjolas Tochter die Parallelen zum Orpheus-Mythos offenkundig sind.
Die symphonische Dichtung Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang op. 55 (1909), die wiederum keine literarische Grundlage hat, zählt zu den wenigen Werken Sibelius‘, in denen die musikalische Deskription einen breiten Raum einnimmt; trotz stilistischer Differenzen gerät hier Sibelius in die Nähe von Respighi. In der germanischen Welt angesiedelt, ist die Tondichtung Der Barde op. 64 (1913, revidiert 1914), ein kurzes introvertiertes Stück, das überwiegend akkordisch strukturiert ist, auf größere Melodien verzichtet und stattdessen die Klangfarbe, besonders die der Harfe, hervortreten lässt.

Mit Tapiola op.112 (1925), einem Auftragswerk für die New York Symphony Society, setzt Sibelius den Schlusspunkt in seinen Tondichtungen. Das vom Kalevala inspirierte Stück – Tapio gilt in der finnischen Mythologie als der Gott des Waldes – zeigt exemplarisch Sibelius‘ Meisterschaft in der Kunst des phantasievollen Abwandelns: Sämtliche Themen und Motive, so gegensätzliche Charaktere sie auch annehmen können, lassen sich aus einer einzigen Keimzelle herleiten. Architektonisch ist das Werk der Variationsform (Introduktion, Thema und sieben Variationen, Coda) verpflichtet; zugleich weist Tapiola eine übergeordnete vierteilige Form auf, sodass sich eine in ihrer Schlüssigkeit bislang nicht gekannte Beziehung zwischen der Musik und jenem das Programm umreißenden Vierzeiler ergibt, der in drei Sprachen der Partitur vorangestellt ist.
Durch die Einbeziehung des Wortes nehmen zwei Werke eine Sonderstellung im orchestralen Oeuvre Sibelius‘ ein: die Kullervo-Symphonie op. 7 für Sopran, Bariton, Männerchor und Orchester ist das erste Werk Sibelius‘, das auf dem Kalevala-Epos basiert: die Runen 31 bis 36 berichten vom tragischen Schicksal Kullervos, der im Hause seines Onkels eine freudlose Jugend verbringt, unwissentlich seine eigene Schwester verführt, aus Verzweiflung darüber in den Kampf zieht und schließlich den Tod findet. Das in riesigen Dimensionen angelegte Werk wurde trotz allgemeiner Zustimmung nach der Uraufführung zurückgezogen, vermutlich, weil Sibelius sich der Schwächen bewusst war: Neben vielen inspirierten Momenten, die das Idiom Sibelius bereits erkennen lassen, krankt die Partitur an etlichen Längen, nur rudimentärer thematischer Verarbeitung und teilweise simpler Satzstruktur – das Ergebnis einer noch mangelnden Vertrautheit mit den Möglichkeiten des großen symphonischen Orchesters. Andererseits begründet Sibelius einen Vokalstil, der streng auf der Silbenqualität der finnischen Sprache basiert – die stets auf der ersten Silbe betont – und für die weitere Entwicklung der finnischen Vokalkunst das Vorbild abgeben sollte. Im anderen Werk, der Tondichtung Luonnotar (Die Tochter der Natur) op. 70 (1913) für Sopran und Orchester, liegen 133 Verse der ersten Rune des Kalevala zugrunde, in der von der Entstehung der Welt aus einem Entenei erzählt wird. Das höchst individuell gestaltete Werk, durch das sich ein einziges Thema in mannigfaltiger Abwandlung zieht, hat, wie Sibelius selbst prophezeite, kaum Verbreitung gefunden, nicht zuletzt auf Grund der enormen vokalen Anforderungen. Wie seine Zeitgenossen hat auch Sibelius die verschiedenen Genres dramatischer Musik mit eigenen Beiträgen versehen. Für eine patriotische Veranstaltung schrieb er 1893 zu den Sieben lebenden Bildern aus der Geschichte Kareliens eine Bühnenmusik, aus der dann drei Stücke zu der Karelia-Suite op. 11 zusammengestellt wurden, die auf Grund ihrer eingängigen Marschmelodik zu den beliebtesten Stücken Sibelius‘ zählt. Auch die Scènes historiques op. 25 (1899) verdanken ihre Entstehung der nationalen Bewegung.

1898 entstand die Musik zum Schauspiel König Kristian II. des deutsch-schwedischen Dichters Adolf Paul, deren Suite (op. 27) als erste Komposition den Namen Sibelius‘ im Ausland bekannt machte. Aus der Bühnenmusik zu Kuolema (1903) von Arvid Järnevelt hat nur die Valse triste op. 44 überlebt – die Vision der sterbenden Mutter von einer Ballszene – sowie die 1906 nachkomponierte Szene mit Kranichen. Die Schauspielmusik zu Maeterlincks symbolistischem Drama Pelleas et Melisande op. 46 (1905) verrät erstmals Sibelius‘ ausgeprägten Sinn für dramatische Charakteristik; als paradigmatisch hierfür darf die zweite Nummer der achtsätzigen Suite gelten, in der mit wenigen, aber ausgesuchten Farben ein Porträt der fragilen Gestalt Melisandes gezeichnet wird. 1906 folgte die Musik zu Hjalmar Procopés Drama Belsazars Gastmahl (Suite op. 51, 1907) – das einzige Werk Sibelius‘, das ein ausgeprägt orientalisches Kolorit aufweist –, 1908 zu August Strindbergs Schwanenweiß (Suite op. 54, 1909). Bei einer Aufführung des Schauspiels Der Sturm von William Shakespeare am Königlichen Theater in Kopenhagen schrieb Sibelius seine umfangreichste und zugleich interessanteste Bühnenmusik. Das achtzehn, höchst individuell gestaltete Nummern (Ouvertüre, zwei Suiten, op. 109, 1926) umfassende Werk wartet mit ungewöhnlichen harmonischen Kühnheiten auf, mit extremer Chromatik, Ganztonstrukturen und Dissonanzballungen, während die Satztechnik ein weites Spektrum von rhapsodischer Freiheit bis zur strengen Kontrapunktik umfasst.

Die übrigen Orchesterwerke sind von peripherer Bedeutung: die Rakastava-Suite op. 14 (1911), eine Bearbeitung von Vertonungen des Kanteletar, die Romanze in C op. 42 (1904) für Streicher, das Tanzintermezzo Pan und Echo op. 53 (1903), die Scènes historiques ll op. 66 (1912), die Suite mignonne op. 98a für zwei Flöten und Streicher sowie die Suite champêtre op. 98b für Streicher, beide 1921 entstanden.
Norbert Christen

 

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.