Neoklassizismus

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t1 Konzertführer
Igor Strawinsky
Neoklassizismus

Die Frage wäre zu stellen, wo Strawinskys Musik einmal vollständig ‚bei sich selbst‘ ist. Denn in nahezu allen seiner Werke greift er auf Vorhandenes zurück, sei es auf das russische Volksliedgut in den früheren Kompositionen, auf Drehorgelklang oder Schlagermotivik, dann – und diese Periode wird wegen der Ausdrücklichkeit der Zitate als ‚Neoklassizismus‘ bezeichnet – auf den Fundus der abendländischen Musikgeschichte, schließlich ‚erreicht‘ er im Spätwerk die Musik der Gegenwart, das Komponieren auf der Basis von Zwölftonreihen. Strawinskys musikalische Entwicklung ist der eines Embryos zu vergleichen, der die ganze Menschheitsgeschichte noch einmal im Kern nachvollzieht und bei dem einzelne Merkmale sich deutlicher ausprägen, als dies dann beim entwickelten Wesen kenntlich ist. Freilich ist es gerade die Phase des ‚Neoklassizismus‘, also etwa zwischen 1920 und 1950, wo sich die Musik dieser Eigenschaften am deutlichsten versichert. Sie trägt am stärksten Züge des Uneigentlichen, die Züge Strawinskys scheinen hier von einer Maske verdeckt. Die Musik wirkt massiv, introvertiert, klappernd, gewichtig, lyrisch, polternd, steif, geschmeidig und vieles mehr, sie tut als ob und bringt über die Vorstellung ein dialektisches Verhältnis zwischen Komponist und seiner Genesis ein. Die Tatsache, dass Strawinsky als Karikatur immer zu grinsen scheint, fängt den Charakter der Musik am deutlichsten ein. Die Werke bleiben verschmitzt selbst da, wo durch den Mantel der Stilisierung eindeutig eine persönliche und emphatische Anteilnahme durchschimmert.

Das Ballett Pulcinella (1919/20) setzte einen Anfang, zwar nicht ohne Vorläufer und Vorausahnungen, wenn man auf Teile in Pétrouschka oder in der Geschichte vom Soldaten blickt, dennoch aber so überraschend, dass Verrat am bisherigen Weg gewittert wurde. Es ist bezeichnend, dass die Commedia dell'arte-Figur Pulcinella und ihre burlesken Verwandlungskünste den Gedanken an eine Musik der Verstellung gebar. Strawinsky griff auf Vorlagen des italienischen Barock zurück, zumeist auf Werke von Pergolesi. Diese Einzelteile montiert er übergangslos zusammen, er färbt sie bunt ein, setzt behutsam an markanten Stellen eine schärfende Dissonanz hinzu oder bricht das Metrum auf. Dies wirkt so, als wolle Strawinsky immer wieder auf die Beobachterrolle verweisen, so als wenn kurz die Maske zum Verrat der Identität gelüpft würde. Im Jahre 1922 stellte Strawinsky elf Sätze aus dem Ballett zu einer Suite zusammen.

Das Konzert für Klavier und Bläser entstand 1923/24 und zählte bald zu den meistgespielten Kompositionen Strawinskys. Vorbild ist die barocke Concerto-Form als Abstraktum. Die Haltung und die Gesten dieser Musik werden aufgegriffen (etwa der langsame Ouvertürencharakter des Beginns, die Geläufigkeit des Allegro-Teils im ersten Satz, die langgezogen ausgesungenen Töne in den Oberstimmen bei gravitätischer Bassfortschreitung im Largo usw.). Doch ebenso bricht die Musik aus diesem Rahmen aus, schon in der Kadenz des zweiten Satzes, vollends schließlich im dritten. Er gerät zur Stilcollage mit Jazzelementen, wirbelnden Zitaten und vielfach aufgebrochener Form. Das Konzert gab nicht zuletzt eine Klangvorlage, die dann später von Kurt Weill (zum Beispiel in der Dreigroschenmusik) aufgegriffen wurde.
Viele Arbeiten Strawinskys nahmen auf ähnliche Weise Modellcharakter für andere Komponisten an. Das szenische Oratorium Oedipus Rex (nach Sophokles, von Jean Cocteau und ins Lateinische übertragen von Abbé Jean Daniélou) stellte das Rüstzeug für das Orff‘sche Musiktheater. Strawinsky arbeitete zwischen 1926 und 1927 an dem Werk, in dem ein Sprecher die Handlungsabschnitte erläutert, während die Musik nicht zuletzt wegen der lateinischen Sprache archaische, gleichsam statuarisch festgeschriebene Züge annimmt. Der Ton dieses Opernoratoriums ist blockhaft starr, vor allem in den zahlreichen Chorpartien. In den Solopartien hingegen eignet sie sich eine Zitathaltung an, die die Charaktere der Personen überzeichnend herausstellt (so etwa das betont gewichtige C-dur bei Créons erstem Auftritt). So spielt sich das Geschehen auf drei Ebenen ab, auf der neuzeitlich rationalen des Sprechers, auf der emotional anteilnehmenden beim Auftreten der Personen (Oedipus, Jocaste, Créon, Tirésias, ein Hirte, ein Bote) und schließlich auf einer gesetzesartig starren in den Partien des Männerchors.

Nach dem Oedipus entstand 1927/28 das Ballett Apollon musagète. Strawinskys chamäleonartige Wandlungsfähigkeit muss überraschen. Er schrieb für das Stück, das weitgehend handlungslos bleibt (‚Geburt Apolls‘, ‚Tänze der Musen Calliope, Polyhymnia und Terpsichore‘, zum Schluss eine Apotheose, ‚Apoll führt die Musen in den Parnass ein‘), eine zurückgenommen weiche und vollklingende Musik nur für Streichorchester.
Strawinsky gab an, das Ballett aus „Bewunderung für die lineare Schönheit des klassischen Tanzes“ komponiert zu haben. „Es lockte mich, eine Musik zu komponieren, bei der das melodische Prinzip im Mittelpunkt steht. Welche Freude, sich wieder dem vielstimmigen Wohllaut der Saiten hinzugeben und aus ihm das polyphone Gewebe zu wirken, denn durch nichts wird man dem Geist des klassischen Tanzes besser gerecht, als wenn man die Flut der Melodie in den getragenen Gesang der Saiten ausströmen lässt.“ Apollon musagète ist ein terzen- und durseliges Stück von äußerster Zurückhaltung. Nicht die Musik ist hier Zitat, sondern die von ihr evozierten Vorstellungen einer getragen abgeklärten Bewegung.

Die folgende Komposition, das Ballett Der Kuss der Fee, nach einem Märchen von Christian Andersen, ist eine Hommage an Tschaikowsky. Der Komponist fasst die Handlung so zusammen: „Ein Kind wird bei seiner Geburt durch den Kuss einer Fee gezeichnet; sie trennt es dadurch von seiner Mutter. Zwanzig Jahre später, als der junge Mann den Augenblick des höchsten Glücks erlebt, gibt sie ihm wieder den Schicksalskuss und entzieht ihn so dem irdischen Dasein, um ihn auf ewig in höchster Glückseligkeit zu besitzen.“ Ausschnitte aus Klavierstücken und Liedern von Tschaikowsky bilden das Gerüst der Partitur. Sie werden überblendet und teilweise rhythmisch und harmonisch geschärft. Ihre Auswahl nach thematisch-motivischer Vermittelbarkeit verhindert den Eindruck einer potpourriartigen Zusammenstellung. Eindringlich erfasst Strawinsky den Orchesterklang Tschaikowskys, ja er überspitzt ihn und führt ihn dadurch zugleich auf seine wesentlichen Merkmale zurück. Das zumeist intim einfache Material der Lieder wird betont symphonisch aufgebauscht, es erhält dadurch eine Bedeutungsschwere, die mit sich selbst im Ungleichgewicht ist. Dies aber steht in genauer Analogie zum Märchen Andersens, das harmlos tut und zugleich abgründig in die Tiefe blickt. Das Capriccio für Klavier und Orchester (1928/29) holte sich, so Strawinsky selbst, Anregungen bei Carl Maria von Weber. Seine Musik wird aber nicht wörtlich zitiert, vielmehr sucht Strawinsky eine Annäherung an das freie Formempfinden Webers, an dessen Verzierungstechniken und vor allem am Gestus brillanter Läufer oder nachdrücklicher Umspielungen. Kapriziöses Auftreten, das einhergeht mit überspitzter Eleganz, mit einem Schleiervorhang aus launisch aufgesetzter Motivik, drängt sich nach vorn, als habe die Musik Schminke aufgelegt. Sie changiert zwischen Reiz und Durchschaubarkeit, das Falsche versöhnt sich mit dem Betörenden. Die Lust am frei und bunt gesetzten Grellen nimmt narzisstische Züge der Selbstdarstellung an. Auch die Tempobezeichnungen der letzten beiden Sätze, nach einem einleitenden Presto, unterstreichen die freie Gestaltung: Andante rapsodico und Allegro capriccioso ma tempo giusto.

Mit dem nächsten Werk, der Psalmensymphonie (1930), wendet Strawinsky den Blick erneut, wie schon im Oedipus, in archaische Vergangenheit, hier in die alttestamentarische. Eigenartig wirkt die Besetzung, in der Strawinsky auf die hohen Streicher (Geigen und Bratschen) verzichtet, dafür aber den Bläserapparat, vor allem in den hohen Lagen, stark besetzt. Dazu tritt ein Chor, nach Möglichkeit mit Kinderstimmen (Sopran und Alt). Die Musik rückt hörbar ab vom filigran aufgebrochenen Romantizismus der vorangegangenen Arbeiten, sie nimmt eine merkwürdig kahle Gestalt an. Im ersten Satz bestimmen immer wieder aussagelos und antiemotional starre Klangbrechungen das Bild, ein deklamierender Chor tritt hinzu. Strawinsky beschwört den Glauben nicht, vielmehr setzt er eine gleichsam unverrückbare Glaubenshaltung, die keine Beweise und keine sinnlichen Anreize benötigt, direkt in musikalische Gestalt. Die drei Sätze, die unmittelbar ineinander übergehen, sind mit Anrufung – Zuversicht – Lobpreisung zu charakterisieren. Der Mittelsatz lockert die Statik barockisierend auf (Fuge), der dritte führt kultische Ekstase durch beschwörende Tonwiederholungsfloskeln vor. Am Schluss ist abgeklärte Lösung erreicht, weitflächig und still, wie ein erschöpfter Körper, der das kultisch Erlebte in sich nachzittern fühlt.

Das Violinkonzert, komponiert 1931, steht „in D“. Dieser im Titel vermerkte Zusatz deutet auf größte tonale Eingebundenheit des Werkes, freilich auch auf die Geigentonart schlechthin. Musterartiges Vorbild sind wiederum barocke Formen, was schon die Satzüberschriften (Toccata – Aria I und II – Capriccio) andeuten. Im Vordergrund aber steht noch mehr das Bild des geigenspielenden Virtuosen, die Musik schreibt gleichsam seine technischen Eskapaden nach und überspreizt sie ins Uneigentliche bis hin zur Selbstkarikatur. Das heißt für den musikalischen Satz eine Verliebtheit in Drehwendungen, die blechern improvisatorisch das metrische Gefüge aufbrechen, Spiel mit Skalen, die rhythmisch nicht aufgehen, Vorliebe für Motivwiederholungen und für markante Einschnitte. Als Signal des ganzen Werkes ist ein ‚überdehnter‘ Quintklang anzusehen, gewissermaßen als virtuose Überhöhung der leeren Saiten. Er steht am Beginn jeden Satzes und setzt jeweils wie ein Startschuss die Musik in Gang, die dann in virtuoser Mechanik fast eigenmächtig weiterläuft.
1933/34 arbeitete Strawinsky, einer Bitte von Ida Rubinstein nachkommend, an dem Melodram Perséphone nach einem Text von André Gide. Es ist das einzige Mal, dass Strawinsky in größerem Umfang die französische Sprache verwendet. Das etwa fünfundvierzig Minuten beanspruchende Werk hat drei Teile (‚Die Entführung der Persephone‘ – ‚Persephone in der Unterwelt‘ – ‚Die Wiedergeburt der Persephone‘). Die Musik sucht, wohl in Angleichung an das französische Wort, impressionistische Ausdrucksmittel einzubringen und nimmt hierbei wie auch vor allem in der Textbehandlung gewisse schematische Züge an. Bezeichnenderweise blieb Gide der Uraufführung fern.

Auch das Ballett Jeu de cartes (1938) – Strawinsky hat die Szenenfolge in Zusammenarbeit mit Malaieff selbst entworfen – weist auf eine Krise der Strawinsky‘schen „Porträttechniken“ (so hat er selbst einmal seine Aneignungsmethoden fremder Stilmittel bezeichnet). Der Joker als Störenfried, als „Verwandlungskünster“, glaubt immer zu siegen und unterliegt schließlich in der dritten Runde. Die Musik scheint mit leichter, ja lässiger Hand geschrieben, so als versichere sich Strawinsky spielerisch prüfend des Angeeigneten. Komponisten wie Beethoven, Rossini, Johann Strauss und Maurice Ravel treten gewissermaßen zur Parade an. Jeu de cartes ist eine der am leichtesten zu hörenden Partituren Strawinskys, da der kritische Unterton hier eher ins Humoristische umgebogen scheint.
Auch das Concerto in Es Dumbarton Oaks behält die in den dreißiger Jahren festzustellende Reduzierung der Sprachmittel weitgehend bei. Doch die polyphone Dichte und zugleich die Klarheit der Komposition weisen dieses Werk als eines der wesentlichsten aus dieser Periode aus. Gleich zu Beginn wird ausdrücklich auf die Brandenburgischen Konzerte Bachs verwiesen, die auch in der formalen Anlage (schnell – langsam – schnell mit ‚attacca‘ – Anschlüssen) als Bezugspunkt gesehen werden. Der Name Bach steht darüber hinaus auch für die Intensität der kontrapunktischen Arbeit in Dumbarton Oaks. Wie in nur wenig anderen ‚neoklassizistischen‘ Werken gelingt hier die Überblendung zweier Stilarten, die Spiegelung von Strawinsky in Bach. Metrische Brüche sind wie selbstverständlich in den Fluss der Musik eingebaut, ohne dass dabei die harmonische Fortschreitung aus dem Gleichgewicht gerät. Ja, es scheint so, als würde die musikalische Welt von Johann Sebastian Bach auch den rhythmischen Verzerrungen schadlos standhalten, als wären die Strawinsky‘schen Verfremdungen in ihr potentiell angelegt.

Der Epoche der Klassik, nach eigenen Angaben Haydn und Beethoven, wendet sich Strawinsky in der Symphonie in C zu. Sie entstand zwischen 1938 und 1940 als Auftragswerk für das Chicago Symphony Orchestra. Es ist aufschlussreich zu beobachten, was sich bei Strawinsky je nach stilistischem Vorbild ändert und was sich als ‚eigener Faden‘ durch alle Werke zieht. Selbstverständlich eignet er sich die klassische Viersätzigkeit an, mit einer Larghetto-Kantilene im zweiten Satz und mit einem rhythmisch wie von der Konstruktion her komplizierten dritten Satz. Im vierten wird am Schluss das ‚Hauptthema‘ der Symphonie formschließend wieder herbeigeführt. Der erste Satz richtet sich an der Sonatensatzform aus, mehr aber vielleicht an den Prinzipien der Durchführung, der motivischen Arbeit. Strawinsky erfindet ein plastisch durchgeformtes Thema, das besondere Prägnanz durch sein Kopfmotiv erhält. Dies zieht sich in mannigfaltigen Abwandlungen durch den ganzen Satz und zwingt ihm eine eigene Logik der Entwicklung auf. Strawinsky verzichtet hier bezeichnenderweise auf die in anderen Werken so häufigen Taktwechsel, da er als wesentliches Merkmal der klassischen Musiksprache den Widerspruch zwischen Motivstruktur und festgefügtem Metrum erkannte. So wird das Kopfmotiv teils gegen das Metrum gesetzt, dann wieder mit ihm versöhnt. Sehr subtil ist in der widersprüchlichen Setzung von Rhythmus und Metrum eine klassische Kompositionshaltung erfasst.
Nach zwei weniger zentralen Werken, den Danses concertantes von 1941/42 und den Scènes de Ballet von 1944, entsteht im Zeitraum von 1942 und 1945 die Symphonie in drei Sätzen. Schwerer als bei Dumbarton Oaks oder bei der Symphonie in C ist hier von einer Stilaneignung zu sprechen. ‚Neoklassizistische‘ Kompositionsprinzipien, vor allem der uneigentliche Ton, treten zurück. Freilich sind Bezüge zur romantischen Symphonie auszumachen, doch sind dies eher rudimentäre Verwandtschaften. Symphonische Dichte selbst wird zur Aufgabe. Es scheint, als seien hier rhythmische Permutationstechniken Strawinskys komprimiert herausgefiltert, angereichert durch ein strenges thematisches Denken, wie es zuvor (mit Ausnahme des ersten Satzes der Symphonie in C) kaum der Fall war. Ein dreitöniges Motiv strukturiert den ganzen ersten Satz und wirkt auch auf die folgenden ein. Dieses wird in ständiger Drehung und Umgewichtung einer Art ‚rhythmischer Arbeit‘ unterworfen. Das bewirkt scharfe Reibestellen, lässt sich nicht fließend integrieren, wie dies in den Dumbarton Oaks der Fall war. Strawinskys Musik gewinnt in der Symphonie in drei Sätzen an Schwere, es macht den Eindruck, als sei Gewichtung des Ausdrucks selbst der kompositorisch abgehandelte Gegenstand. Hier freilich verwischen sich die Ebenen von Stilübernahme und kompositorischer Eigenständigkeit.

Die folgenden Werke, die Messe (1944 bis 1947), das Ebony Concerto (1945), das Concerto en re (1945) und schließlich das Ballett Orpheus (1947) kehren endgültig den ‚neoklassizistischen‘ Techniken den Rücken zu. Das Concerto en re, das Strawinsky auf Bestellung für das Basler Kammerorchester und seinen Leiter Paul Sacher schrieb, sieht als Besetzung ein reines Streichorchester vor. Es knüpft noch einmal an den barocken Concerto-Typus an. Die Tendenz zu einer kargeren und herberen Linienführung ist unverkennbar. Resultat ist ein sperriger Ton, der auf die herben Strukturen des späten Strawinsky vorausweist.
Das Ebony Concerto ist für Woody Herman und seine Jazzcombo geschrieben. Strawinsky stellt hier seine außerordentliche musikalische Aneignungsfähigkeit schlagend unter Beweis. Drei knappe Sätze greifen diverse Jazzwendungen auf und setzen sie virtuos gegeneinander. Es ist das letzte Werk Strawinskys, in dem die spielerische Freude im Umgang mit fremdem musikalischen Material zentrales Anliegen ist.
Ganz anders gearbeitet sind die Messe und das Ballett Orpheus, die ausgesprochen linear gedacht sind. Angeknüpft wird an Satzweisen, die sich an der niederländischen Polyphonie des 15. Jahrhunderts orientieren, daneben an noch davorliegende Musizierformen, wie zum Beispiel an den gregorianischen Choral. Kaum aber kann man hier mehr von kompositorischer Reflexion alter Stilmittel sprechen, vielmehr repräsentieren diese Arbeiten, vor allem die Messe, an der Strawinsky mit Unterbrechungen außergewöhnlich lang arbeitete, die Suche nach einer persönlichen Form des Ausdrucks fernab von einer romantischen Empfindungswelt. Klarheit der Linien, die hart gegeneinandergesetzt sind, bestimmt maßgeblich das weitere kompositorische Denken Strawinskys, der Weg hin zur Reihentechnik ist besonders in der Messe deutlich vorgezeichnet.
Reinhard Schulz

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.