Hans Pfitzner

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t1 Konzertführer
Hans Pfitzner
Hans Pfitzner

Moskau, 5.Mai 1869 – Salzburg, 22. Mai 1949

Trotzig, reizbar, gallig und polemisch empfand sich Hans Pfitzner als der in seiner herben, schwerblütigen Innerlichkeit zu wenig gewürdigte Platzhalter einer Tradition, die sich von Schumann wie Wagner herleitet und dem antiromantischen Affekt einer neuen Musik vergangenheitstrunken entgegenstemmt. Ohne es zu beabsichtigen, steht Pfitzners Musik mit Tendenzen des 20. Jahrhunderts in Beziehung: mit dem Expressionismus durch ihren lastenden, linearen Satz, mit den Vorstößen an den Rand der Tonalität, mit der strikten Abkehr vom Wohlklang und mit der Betonung der ‚absolut-musikalischen‘ Logik der formalen Entwicklung. Durch Pfitzners Werk zieht sich ein Bruch: Die nach der sozusagen expressionistischen Phase geschriebenen Partituren des Alternden neigen sich einem vorsichtigen Klassizismus zu, wobei Qualität wie Fülle des Einfalls nicht durchweg den Rang besitzen, wie ihn Pfitzners theoretische Schriften der melodischen Intuition zuschreiben.

Pfitzner ist vorab dramatischer Komponist. Die Vorspiele zu den drei Aufzügen der musikalischen Legende Palestrina (1917) werden mitunter als symphonische Trilogie aufgeführt. Die archaisierenden Quinten und Quarten wie die spröde, ätherische Instrumentierung beziehen sich auf die introvertierte Wesensart des zu einer Symbolgestalt abstrahierten Renaissance-Komponisten. Das tumultuarische Vorspiel zum zweiten Aufzug bezieht sich auf das blinde Wüten des Schopenhauer‘schen „Willens“, des bloßen Behauptungsdrangs der Erscheinungswelt. Das dritte Vorspiel, mit der Einleitung zum letzten Aufzug des Parsifal sympathisierend, ist eine verhaltene, von einer rührenden Klarinettenmelodie durchzogene Elegie. Für die Bühne bestimmt ist auch die im schmetternden C-dur auftrumpfende, von lyrischen Seitenthemen durchzogene Ouvertüre zu Kleists Das Käthchen von Heilbronn, Eröffnungsstück einer Schauspielmusik von 1905, in mancherlei Betracht eine neo-romantische Variante der Euryanthe-Ouvertüre des Pfitzner besonders lieben Weber.

Die Gattung Symphonie hat Pfitzner lange ausgespart, obgleich seine Bühnenwerke und auch seine Kammermusik sich nicht genug tun können in thematischer Arbeit und symphonischer Logik. Die Symphonie cis-moll op. 36 a ist die Orchesterfassung eines 1922 geschriebenen Streichquartetts, das die üblichen vier Abschnitte in einen riesigen Satz bindet und kantig-lineare Stimmführung im expressionistischen Sinn aufbietet. Die kleine Symphonie in G-dur von 1939, gesetzt für doppeltes Holz, Trompete, Harfe und Streicher, charakterisiert in vier kurzen Sätzen Pfitzners späte Sympathie für aufgehellten Satz und frühklassische Formen – ein Phänomen, wie es sich auch in manchen Partituren des Pfitzner im Übrigen konträren Strauss beobachten lässt und wohl ein Alterssymptom der vormals so aufwendig musizierenden Neuromantiker war. Prägnanter in der Thematik und frischer in der Diktion ist die C-dur-Symphonie op. 46 von 1940: drei ineinander übergehende Sätze, deren erster von einem ritterlichen, im Blech exponierten Allegro-Thema von rhythmischer Energie getragen wird, deren Adagio vom Englischhorn ausgeht und einen Kanon zwischen Oboe und Klarinette bringt und deren letzter sich in flinken Triolen bewegt. Zyklisch verklammernd steht am Ende das ritterliche Eingangsmotiv.

Die beiden Instrumentalkonzerte sind ungefähr gleichzeitig entstanden und fassen mehrere Sätze in einen pausenlos ablaufenden Komplex des Klavierkonzerts Es-dur op. 31 im Jahre 1922, das Violinkonzert h-moll op. 34 ein Jahr später. Romantischer, auftrumpfender Elan trägt das Klavierkonzert, das Violinkonzert gibt sich so spartanisch in sich gekehrt, dass das Soloinstrument im langsamen Satz schweigt, was ein Unikum in der gesamten Streicherliteratur darstellt. Die strahlkräftige Tonart Es-dur spielt das Klavierkonzert mit herausfordernder, ja bravouröser Geste aus, zumal in dem kurz von einem Gesangsthema unterbrochenen Allegro-Abschnitt, in dem aus einem Jagdmotiv im Sechsachteltakt wirbelnd entfalteten Scherzo und zumal in dem aggressiv und derb losbrechenden Finale, dessen Kadenz in fugierter Form gehalten ist. An dritter Stelle steht ein meditatives Andante. Das Violinkonzert zeigt den ‚expressionistischen‘ Pfitzner. Drei Themengruppen – ein pathetischer Hauptgedanke, ein kantabler Seitensatz und ein vom Blech eingeführtes, markantes Motiv – werden im Verlauf des gesamten Konzerts gleichsam durchgeführt, das ‚marcato‘ des Blechs sogleich in sieben Variationen, deren Tempo sich von Abwandlung zu Abwandlung steigert und zum wilden Prestissimo wird. Der langsame, auf die Solovioline verzichtende Teil verdunkelt das Gesangsthema zu düsterer, resignatorischer Herbheit. Mit der Wiederkehr des ausgesparten Soloinstruments beginnt die Reprise, die sich durch neue Nebenthemen zu einem Rondo weitet. Beide Instrumentalkonzerte Pfitzners strapazieren auf gegensätzliche Weise die manuellen und intellektuellen Fähigkeiten der Solisten.

Von deutscher Seele – der aufdringliche Titel der romantischen, abendfüllenden Kantate nach Eichendorf op. 26 verstellt im Verein mit einigen, aus Pfitzners deutschnationaler Haltung zu erklärenden, äußerlich patriotischen Effekten den Blick auf ein 1921 entstandenes Hauptwerk Pfitzners. Eichendorff, den der Liedkomponist Pfitzner bevorzugte, gibt in Gedichten und Sprüchen dem Ausdruck, was für Pfitzner, gut romantisch, den Kern der ‚deutschen Seele‘ ausmacht: Naturverbundenheit, Phantastik, Idealismus, Selbstzweifel, Resignation, Todesmystik, stille Heiterkeit usw. „Mensch und Natur“ stehen obenan in den zwei Blöcken der von Soloquartett, Chor und großem Orchester getragenen, sich in manchen Passagen mit Hindemiths Oratorium Das Unaufhörliche (1931) berührenden Fantasie über das Deutsche schlechthin. Was Eichendorffs Verse auf knappe Zeilen zusammendrängen, führt Pfitzner mit der Sensibilität des Nachgeborenen breit und grüblerisch aus.

„Mensch und Natur“ ist der elfteilige erste Abschnitt überschrieben, dessen Kernstück das furios an die Grenzen der Tonalität drängende, nächtlich-dämonische Orchesterscherzo ‚Der Tod als Postillon‘ ist. „Leben und Singen“ heißt der zweite Teil, wobei der erste Abschnitt die Vergänglichkeit des Irdischen betrachtet, während der Schlussteil Lieder aneinanderreiht und am Ende ausbricht in den Chorsatz ‚Wenn die Wogen unten toben‘, dessen aufbegehrendes nationales Pathos aus der politischen Situation der Entstehungszeit wie aus Pfitzners konservativer Gesinnung verstanden werden muss.

Der Tod der ersten Frau Mimi (1926) brachte einen Bruch in Pfitzners Leben. Schopenhauerisch verfinstert klingt die Chorfantasie mit Orchester, Orgel, Sopran- und Baritonsolo Das dunkle Reich op. 38 (1929): acht Stationen der Reflexion über die Wechselbeziehung von Leben und Tod, an Hand von Gedichten von Michelangelo, Goethe, Richard Dehmel und Conrad Ferdinand Meyer. Die spätromantische „Sympathie mit dem Tode“ begegnet sich mit geballtem expressionistischen Ausdruck und spiegelt sich in einer schmerzlich dissonanten, kaum noch tonalen Harmonik. Die Chöre der Toten und der Schnitter, der Tanz des Lebens und die Faust-Szene des Gretchens vor der Mater dolorosa verbinden sich im Zeichen des Schicksalsspruchs „Alles endet, was entstehet“. Die Komposition ist eine ausgedehnte Fantasie mit vokalen Passagen, kein weltliches Requiem.

Karl Schumann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.