Gian Francesco Malipiero

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t1 Konzertführer
Gian Francesco Malipiero
Gian Francesco Malipiero

Venedig, 18. März 1882 – Treviso, 1. August 1973

Malipiero erhielt seine Ausbildung in Wien, Venedig, Bologna und Paris. Zusammen mit Casella und anderen Komponisten war er maßgeblich am Aufbau verschiedener Organisationen zur Verbreitung der zeitgenössischen italienischen Musik beteiligt. 1923 begann er mit der Edition des Gesamtwerkes von Claudio Monteverdi (abgeschlossen 1942), später wurde er mit der Publizierung des Oeuvres von Antonio Vivaldi betraut. 1932 erhielt er eine Professur für Komposition in Venedig, von 1939 bis 1952 hatte er auch die Leitung des Conservatorio inne.

Malipieros frühestes Schaffen liegt weitestgehend im Dunkeln: Zahlreiche Kompositionen werden vom Autor vernichtet, andere bleiben unveröffentlicht. Eines der ersten Werke, die von Malipiero selbst akzeptiert werden, sind die lmpressioni dal vero, vom Komponisten als Reaktion gegen die Programmmusik herkömmlicher Prägung verstanden: Natur soll nicht mit musikalischen Mitteln imitiert werden, sondern musikalische Ideen suggerieren. Teil I dieser Sammlung (1910/11) lässt unmittelbar den Einfluss Debussys erkennen, und zwar in Harmonik und Instrumentation, während der 1914/15 entstandene Teil II offensichtlich an Strawinsky orientiert ist. Die Pause del Silenzio, sette espressioni sinfoniche (Teil I, 1917), eines der herausragenden Werke Malipieros aus jener Zeit, sind überwiegend improvisatorischen Charakters: Jeder der sieben Abschnitte wird mit einer Variante derselben Fanfare eröffnet, ein Verfahren, das an Janáček gemahnt. Mit den Concerti per orchestra (1931) opponiert Malipiero gegen die exzessive Orchestervirtuosität der Nachfolger und Nachahmer Debussys, gegen ein Phänomen, dem er ablehnend gegenübersteht und das er als Gefahr für den Organismus des Orchesters ansieht; die Ausdrucksmöglichkeiten des einzelnen wie auch des gesamten Klangkörpers sind für Malipiero wichtiger als die Virtuosität.

Gegen jegliche Prinzipien oder gar Schemata zeigt Malipiero eine ausgeprägte Aversion. So ist seiner musikalischen Denkungsweise das dialektische Sonatenprinzip zutiefst suspekt, was sich paradigmatisch an seinen elf Symphonien erkennen lässt: Das Prinzip der thematisch-motivischen Arbeit wird kategorisch abgelehnt, an ihre Stelle tritt das freie, quasi improvisatorische Spiel der verschiedenen musikalischen Gedanken, deren Abfolge vom „kompositorischen Instinkt“ festgelegt wird. Aus dieser Anschauung resultiert die in fast allen Werken Malipieros zu beobachtende Tendenz zur Vereinfachung, erklärt sich die Tatsache, dass sich der Komponist allen atonalen, dodekaphonen oder gar seriellen Strömungen verweigert hat. Die einzelnen Symphonien sind höchst individuell gestaltet; sie tragen fast alle Zusatzbezeichnungen, die jedoch nicht auf eine bestimmte Programmatik abzielen. Aus dem umfangreichen Oeuvre ragen heraus: Violinkonzert Nr. 1 (1932), Violoncellokonzert (1937), die Fantasie di ogni giorno (1953), die Fantasie concertanti für Klaviertrio und Orchester (1954) sowie die Dialoghi (1955 bis 1957), acht Stücke konzertanten Charakters, in denen der Komponist Zwiesprache hält mit jenen Verstorbenen, zu denen er eine geistige Affinität empfindet: Platon, Jacopone da Todi, Monteverdi, Vivaldi, de Falla. Malipiero hat eine Reihe von Bearbeitungen hinterlassen, unter ihnen La Cimarosiana (1921) und Vivaldiana, in denen sich sein künstlerisches Credo am unmittelbarsten äußert: dass nämlich eine Erneuerung der italienischen Musik nicht vom ‚melodramma‘ des 19. Jahrhunderts zu erwarten, sondern nur durch Rückbesinnung auf die italienische Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts zu erzielen ist.

Norbert Christen

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.