Symphonische Fragmente 1818 - 1821

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t1 Konzertführer
Franz Schubert
Symphonische Fragmente 1818 - 1821

Kurz nach der Fertigstellung der sechsten Symphonie, die zum ersten Mal Züge von musikalischer Gebrochenheit in seinem Schaffen aufweist, setzte Schubert zu einer weiteren Symphonie (in D-dur D 615) an, um sich von den vorklassischen Traditionen gewaltsam zu befreien. Doch das misslang; er skizzierte nur zwei Sätze und ließ den Entwurf im Klaviersatz liegen. Die Introduktion in d-moll greift sogleich in neue Bereiche aus, tastend und überaus eindrucksvoll, doch der nachfolgende Hauptsatz (Allegro moderato) kann diese Höhe nicht halten; Schubert bricht mit dem Ende der Exposition ab, skizziert aber bereits in der nächsten Notenzeile einen weiteren Satz in D-dur, ohne Tempobezeichnung allerdings. Nach Brian Newbould, der auch eine Orchesterfassung hergestellt hat, handelt es sich wohl nicht um den langsamen Satz, sondern um das Finale, vermutlich in Rondoform. Bei der ersten Wiederkehr des Hauptthemas bricht der Satz jedoch wieder ab. Der Symphonieentwurf D 615 exponiert also die kritische Phase in Schuberts Komponieren, die nichts weniger ist als eine Krise, der Versuch nämlich, den eigenen ‚Ton‘ in der Instrumentalmusik zu finden. Die Stilebene der sogenannten ‚Vorklassik‘, in deren Gefolge die ersten vollendeten Symphonien noch stehen, das virtuose Nachmusizieren der Ausstrahlung, die der Wiener klassische Satz Haydns und Mozarts auf ihn ausübte, ohne dass er das darin verborgene Werkstattgeheimnis hätte kennen können, und die Symphonik Beethovens neben ihm waren das Arbeitsfeld, das es nun zu überwinden galt. Nach 1820, möglicherweise erst im Frühjahr 1821, skizzierte Schubert ein weiteres Symphoniefragment in D-dur (D 708 A) und begab sich ausdrücklich auf das musikalische Terrain des bewussten Experimentierens: „Insgesamt, so scheint es, hat er nicht recht gewusst, wohin er mit dieser Symphonie als Ganzes gehen wollte; unvermittelt stehen da erstaunliche Ausgriffe“ – das Scherzo beginnt zum Beispiel ganz ähnlich wie später das der großen C-dur-Symphonie – „und Konventionelles nebeneinander“ (Peter Gülke). Diesmal verzichtet er auch auf den gewaltigen Anspruch einer langsamen Einleitung und entwirft die Exposition eines Allegro-Satzes, wiederum als Klavierskizze. Auffällig ist die entlegene Tonart des Seitenthemas, immerhin As-dur, die am weitesten von D-dur entfernte Tonart; noch kühner sind die Ausweichungen in der Skizze zum Finale. Insgesamt liegen vier Sätze in mehr oder weniger approximativer Gestalt vor. Spielbare Fassungen erstellten Peter Gülke und Brian Newbould unabhängig voneinander. (Beide sind auf Tonträgern greifbar.)

Einige Monate nach diesem Fragment machte sich Schubert bereits erneut an die Skizze zu einer Symphonie in E-dur (D 729), zu der es sogar einen Partiturentwurf der ersten hundert Takte gibt; der Rest ist ebenfalls ausnahmsweise nicht als Klavierskizze notiert, sondern gleich in die Orchesterpartitur, freilich nur die führenden Stimmen (!), offenbar um dem raschen Flug der musikalischen Gedanken Rechnung tragen zu können. Gelegentlich gibt es auch Hinweise auf die Bassstimme. Das Fragment ist also nur im Stimmengewebe unvollständig: „So setzte er die Arbeit bis zum Ende seiner viersätzigen Symphonie fort, wo er hinter den abschließenden Doppelstrich das Wort ‚Fine‘ mit einem Schnörkel schrieb. Uns liegt also eine vollständige Symphonie von rund 1300 Takten vor, von denen etwa 950 lediglich als einzelne Musikzeile existieren“ (Brian Newbould). Im Jahre 1934 unternahm der Dirigent Felix Weingartner den Versuch, das Werk in eine spielbare Fassung zu bringen, die sich jedoch nicht durchsetzen konnte. Zum ersten Mal verlangt Schubert hier übrigens drei obligate Posaunen, die dem Gesamtklang eine charakteristische Instrumentalfarbe hinzufügen. Das Fragment steht stilistisch etwa zwischen dem von Schubert bewunderten Rossini und Vorgriffen auf die späteren beiden großen Symphonien, allerdings nicht in den Themen, sondern in den Überleitungen. Bereits das Ausspinnen des Materials zu großen Klangflächen in den Ecksätzen lässt die Dimensionen der Symphonie C-dur von 1825 durchaus ahnen.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.