Ungarische Rhapsodien

Zurück
t1 Konzertführer
Franz Liszt
Ungarische Rhapsodien

Als Franz Liszt in einer französischen, 1861 von Peter Cornelius ins Deutsche übertragenen Abhandlung Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn auf volksmusikalische Wurzeln der Themen verwies, überwog der Enthusiasmus des Pianisten, auf unversehrte Nationalmelodik gestoßen zu sein. Wie der Komponist Béla Bartók nachweisen konnte, handelte es sich bei den von Liszt gesammelten und zunächst skizzierten Materialien (Magyar Dalok, Magyar Rhapsodie und Ungarische Nationalmelodien) um die musikalischen Kernenergien jener Vortragsmodelle, die in rhapsodischer Ungebundenheit von den umherziehenden Zigeunern buchstäblich zur Explosion gebracht wurden. Selbstverständlich dürften – gefiltert und gebrochen – auch volksmusikalische Motive und Perioden in diese zwischen Sentiment und freizügiger mitreißender Instrumentalvirtuosität vermittelnden „Erzählungen“ und Tänze Eingang gefunden haben. Doch Bartóks Untersuchungen – und auch solche, die von jüngeren Forschern vorgelegt worden sind – bestätigen, dass initiale thematische Erfindungen auf die kompositorischen Bemühungen ehrgeiziger Adliger, also auf höhergestellte Dilettanten, zurückgehen. Deren Inventionen griffen die Zigeuner – frei geboren, unstet und in stolzer Skepsis gegen jede Form der bürgerlichen Vereinnahmung, aber nicht frei von existentiellen Sorgen und ethnischer Benachteiligung – nicht ohne Berechnung auf. Ihre spieltechnischen Fertigkeiten, die Charakteristika der von ihnen verwendeten Instrumente (das Zymbal zum Beispiel) und die eigenartigen Farben, die durch die Verwendung der sogenannten ‚Zigeunertonleiter‘ erzielt werden, verliehen ihren Stücken ein exotisch anmutendes Flair. Musik für die Seele und den Lebensunterhalt.

Die genannte ‚Zigeunertonleiter‘ lässt sich in den ‚verbunkos‘, den Werbemusiken für die österreichische Armee, bis in das späte 18. Jahrhundert zurückverfolgen, einer instrumentalen Gattung, die später durch den Csárdás abgelöst worden ist. Fachterminologisch gesehen handelt es sich bei der ‚Zigeunerleiter‘ um eine harmonische Moll-Tonleiter mit hochalterierter Quarte, wodurch eine sonderbare, gewissermaßen narkotisierende Labilität zwischen Moll- und Dur-Charakter erhalten bleibt.
Franz Liszt schrieb seine insgesamt 19 Ungarischen Rhapsodien für Klavier erst nach 1850 – auf der Grundlage der thematischen Skizzen aus seinen Reisejahren. Zwischen den Rhapsodien Nr.1 bis 15 (1851 und 1853) und den letzten vier (nach 1880 gedruckt) ist eine stilistische, ja weltanschaulich-ästhetische Zäsur zu bemerken, die nach den reich ornamentierten, unverblümt auf Wirkung abzielenden Stücken an eine experimentelle, karg motivierte Spätlese ‚nationalen‘ Ausdrucks denken lässt. Hier erscheint die Musik der Zigeuner nicht mehr als akustische Verklärung sozialer Benachteiligung, sondern – modern gedacht und formuliert – als Ausdrucksmittel einer gesellschaftlichen Minderheit, deren Leid bis in unsere Gegenwart immer wieder durch willfährig aufbereitete Pusztaklänge folkloristisch bagatellisiert worden ist. Alle sechs überlieferten Orchesterbearbeitungen der Rhapsodien Nr. 2, 5, 6, 9, 12 und 14 leisten verzerrender Beurteilung Vorschub und es empfiehlt sich, wenn man den Ungarischen Rhapsodien Franz Liszts gerecht werden möchte, die originalen Klavierausgaben zu hören. In den Orchesterfassungen von Liszt, an deren Erstellung sein Meisterschüler Franz Doppler beteiligt war (im Fall der Rhapsodie Nr. 2 wird Doppler offiziell sogar als selbständiger Instrumentator erwähnt), erscheinen die Freizügigkeiten des Rubato, des grenzüberschreitenden Tumults in den tänzerischen Schlussabschnitten und alle rebellischen Elemente beschwichtigt – ein Umstand, der sich auch aus den spielpsychologischen Möglichkeiten eines Kollektivs erklären lässt, das nicht annähernd so wendig und rezitativisch ungebunden phrasieren kann wie ein Solist.

Die Nummerierungen der Klavier- und Orchesterversionen sind bis auf eine Ausnahme nicht identisch. In der instrumentierten Fassung trägt jene 14. Ungarische Rhapsodie, die Liszt auch als Fantasie für Klavier und Orchester herausgegeben hat, die Nummer 1. Die Nummer 2 der Orchesterausgabe geht auf die Rhapsodie Nr. 12 für Klavier in cis-moll zurück. Bei der dritten für Orchester handelt es sich um die vierteilige sechste Rhapsodie mit dem anstrengenden Oktavenfinale, dessen Steigerung und Ausdrucksverschärfung einem rührigen Instrumentalensemble weniger Probleme bereitet als dem gewöhnlich gemarterten Pianisten. Bei der vierten Rhapsodie mit ihrer ‚traditionellen‘ Zweiteilung in einen langsamen ‚Lassan‘- und einen schnellen ‚Friska‘-Abschnitt handelt es sich um die zweite Rhapsodie für Klavier – dem wohl bekanntesten und (in beiden Fassungen) am häufigsten gespielten Werk aus dieser Sammlung. Ungewöhnlich ist der formale Verlauf der fünften Rhapsodie für Klavier bzw. für Orchester, denn hier wird der elegische Grundton lediglich vorübergehend etwas aufgerauht, aber nicht durch ein gegensätzliches Motiv kontrastiert. Die ausgreifende, schwermütige Melodie geht auf den Ungarn Joźsef Kossovits zurück. Thematische Verwandtschaft lässt sich auch zum Mittelteil aus dem ‚Trauermarsch‘ der b-moll-Sonate von Chopin heraushören, wobei es schwer zu entscheiden ist, ob diese Übereinstimmung zufällig oder beabsichtigt ist.

Zu den gestaltreichsten und in der Finalentwicklung turbulentesten Rhapsodien gehört die Nr. 9 für Klavier, der sogenannte ‚Pesther Karneval‘, der in der prächtig auftrumpfenden Orchesterfassung als Nummer 6 geführt wird.
Peter Cossé

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.