Symphonien Nr. 1-5

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t1 Konzertführer
Dmitri Schostakowitsch
Symphonien Nr. 1-5

Die Symphonien Nr. 1-5 von Dimitri Schostakowitsch, komponiert zwischen 1923 und 1937, spiegeln eine Entwicklung, die mit den Begriffen Aufbruch – Experiment – Verunsicherung und scheinbare Versöhnung zu beschreiben wäre. Sie umspannen hierbei nicht allein eine individuelle Entwicklung, sondern auch die des jungen Sowjetstaates, dessen Kulturpolitik nicht selten die Konturen für musikalische Stilistik vorgab. Schostakowitsch konnte sich dem nicht immer vollständig entziehen, freilich stellte er sich stets auf ganz individuelle Weise den kulturpolitischen Ansichten und Ausrichtungen der Partei.

Der Schwerpunkt der Arbeit an der ersten Symphonie in f-moll op.10, dem ersten großen Orchesterwerk Schostakowitschs, lag in den Jahren 1924/25, erste Skizzen gehen auf das Jahr 1923 zurück. Die Uraufführung fand am 12. Mai 1926 in Leningrad statt. Schostakowitsch war gerade zwanzig Jahre alt, die Symphonie hatte er als Abschlussarbeit am Konservatorium geschrieben; dass sie diese Aufgabe übererfüllte, war sofort klar. Sie verblüfft in ihrer Anlage durch eine merkwürdige Verschränkung tradierter Formschemata – und durch beständigen Ausbruch daraus. Gleichsam Übermut im Umgang mit dem musikalischen Material, zur Schau gestellte Souveränität, kennzeichnen den Charakter. In die hergebrachte Form einer Symphonie mit Sonatensatz, Scherzo, langsamem Satz und Finale in freier Sonatensatzanlage sind stilistische Mittel eingebracht, die für die weitere Musiksprache von Schostakowitsch kennzeichnend bleiben: Zitattechnik, skurriler bzw. lakonischer Ton, überraschende Verknüpfungen, Plastik der Erfindung bis hin zur demonstrativen Überzeichnung. Schon am ersten Satz ist dies alles festzustellen. Die langsame Einleitung hat nichts von der hier sonst üblichen Schwere und Nachdrücklichkeit, sondern rückt eine vorwitzig lapidare Fanfarenwendung, zunächst in gedämpften Trompeten, ins Zentrum. Und auch die Themen des Hauptsatzes, ein ‚verborgener Marsch‘ und ein pfauenhaft gezierter Walzer, karikieren im Grunde das Prinzip polarer Themensetzung. Der Satz benutzt gewissermaßen die tradierte Formvorgabe, biegt diese aber zugleich um zu einer Collage bizarrer Bilder. Es ist bezeichnend für die Überlegenheit des jungen Schostakowitsch, dass er scheinbar das mühelos einbrachte, worum sich neoklassizistische Ansätze im Westen oft mit hörbarer Anstrengung bemühten.

Die ganze Symphonie wahrt diesen Ton. Am überzeugendsten vielleicht gelang dies im Scherzo mit einem bestechenden instrumentalen Erfindungsreichtum. Das Klavier wird hier – wie dann auch im vierten Satz – zur klanglichen Schärfung einbezogen. Die melodischen Einfälle wirbeln gleichsam durch die Musikgeschichte, das Scherzo-Thema weist in seiner frech-rhythmischen Prägnanz auf Prokofjew, das Thema des Trios mit betonter Quinten-Harmonisierung lässt russische Kompositionstechniken des späten 19.Jahrhunderts anklingen. Emphatisch überlagern sich beide Charaktere gegen Schluss des Satzes. Das Bild eines revolutionär geeinten Russland mag hier mitschwingen.
Lyrische Besinnlichkeit kennzeichnet den dritten Satz: Holzbläsermelodik, espressivo ausgesungen und mit schillernder Begleitung der Streicher. Der Mittelteil fügt Trauermarschelemente ein, die auf melodisches Material aus der Zeit der gescheiterten Revolution von 1905 anspielen.

Im Finale bilden Themenfetzen, häufig lapidar aus der chromatischen Skala gebildet, einen Reigen, der gleichsam mit Überschwang durch extreme Register des Orchesters führt. Wieder scheint es so, als wolle Schostakowitsch ausbrechen aus vorgegebenen Begrenzungen, hinaus ins Freie. Das pathetische Ende der Symphonie unterstreicht dies. – Die erste Symphonie machte Schostakowitsch schlagartig bekannt. Noch in den zwanziger Jahren wurde das Werk im Westen von Dirigenten wie Walter, Stokowski oder auch Toscanini vorgestellt. Auch heute noch zählt sie zu den meistgespielten Symphonien von Schostakowitsch.

Die zweite Symphonie H-dur op. 14 ist hingegen bei uns so gut wie nie zu hören. Der Grund ist klar, denn diese einsätzige Chorsymphonie besingt in emphatischem Ton Errungenschaften der russischen Revolution (die Worte stammen von Alexander I. Besymenski): Choralpathos, das mit den Worten „Die Losung für die kommenden Generationen: Oktober, Kommune und Lenin“ endet. Wie dieser Durchbruch jedoch zustande kommt, das beweist, wie vertraut Schostakowitsch mit den avantgardistischen Sprachmitteln dieser Zeit umging. Diese standen für ihn in keinerlei Widerspruch zum feierlichen Inhalt der Musik. Schostakowitsch erhielt den Auftrag im. März 1927, das Werk sollte zum zehnten Jahrestag der Revolution erklingen. Am 5. November dieses Jahres fand die Uraufführung statt. Die Symphonie steht in H-dur, schon zu Beginn aber verschlingen sich die Linien zu einem polytonalen und polyrhythmischen Klanggemisch, in das verhaltene Fanfarenmotivik hineinklingt. Daraus lösen sich ein grell durchbrechender Marsch, dann ein von surrealen Elementen durchzogener Tanz. Exponierte Überlagerungstechniken führen zu tumultartigen Partien von ganz unmittelbarer Bildhaftigkeit. Hier tritt dann der Chor ein, lösend und klärend. Ein hymnischer Ton entsteht, abgelöst von aggressiven, parolenartigen Einwürfen. Diese avancierten Sprachmittel bilden den Widerpart zum hymnischen Ton, sie verhindern Wehleidigkeit. Die zweite Symphonie Schostakowitschs spiegelt wie kaum ein anderes Werk den überschäumenden Aufbruchcharakter der jungen Sowjetunion in den zwanziger Jahren.

Ein merkwürdiges Gegenstück hierzu bildet die dritte Symphonie in Es-dur op. 20. Auch sie ist nur einsätzig und endet ebenfalls mit einem hymnischen Chorfinale. Der Untertitel Zum ersten Mai kennzeichnet ihre politische wie agitatorische Ausrichtung. Doch schon gleich zu Beginn wird klar, dass Schostakowitsch hier einen ganz anderen Ton anschlägt. Es scheint, als würde das Steuer gleich mehrfach herumgerissen. Zum einen strebt Schostakowitsch einen entschieden fasslicheren, das heißt volkstümlicheren oder schlichteren Gestus an. Das extrem experimentelle Moment der zweiten Symphonie ist entschieden zurückgedrängt. Zum anderen scheint die Musik auch Einspruch zu erheben gegen inzwischen schon lauter werdende ästhetische Ausrichtungen in der Sowjetunion. Zwar wirkt der Chorteil der 1929 komponierten Symphonie apotheotisch, doch die vorangegangenen Abschnitte zitieren eine Heiterkeit herbei, die nichts mit angespannt pathetischer Festtagsfeierlichkeit zu tun hat. Ja, die Musik ist gewissermaßen eine Parodie solcher Feierlichkeit. Sie schlägt skurrile Wendungen an, sucht extreme und bizarr wirkende Lagen, überdehnt den Gestus der Festlichkeit zur Ausgelassenheit, zum Mummenschanz. Die siebenteilige Symphonie entwirft gewissermaßen das Bild eines vorbeiziehenden Aufmarsches mit immer neuen kapriolenartigen Eindrücken. So erklärt sich auch ihr Bauprinzip, über das Schostakowitsch einmal sagte: „Es wäre interessant, eine Symphonie zu komponieren, in der sich kein Thema wiederholt.“ Nicht immer freilich gelingt dabei ein in allem stimmiger Aufbau, wichtiger aber erscheint, dass Schostakowitsch hier eine musikalische Charakteristik in Szene setzt, die sich verfestigenden Kunstvorstellungen in der Partei zu widersetzen sucht.

Die Partitur zur vierten Symphonie c-moll op. 43 entstand in den Jahren 1935 und 1936. Der kompositorische Anspruch ist merklich gestiegen, was schon aus der zeitlichen Ausdehnung des dreisätzigen Werkes auf etwa eine Stunde Spieldauer hervorgeht. Doch auch die musikalische Sprache entfernt sich weitgehend von der bildhaften Plastik der früheren Werke. Schostakowitsch geriet zu dieser Zeit wegen seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk in die Mühlen einer immer trivialeren Idealen nachhängenden Kulturkritik. Dies scheint im zerrissenen Ton der Musik widergespiegelt, gleichzeitig schlug die Symphonie hiermit eine Sprache an, die immer schwerer durchsetzbar war. Nach einigen Proben zog Schostakowitsch selbst das Werk zurück, es wurde erst 1961 uraufgeführt. Auch heute noch erweckt es einen zwiespältigen Eindruck. Deutlich vernehmbar ist der Einfluss Mahlers in Steigerungsfeldern und Zusammenbruchsstellen, in surrealen Einsprengseln und in scheinbar trivialen Tanz- oder Marschmotiven. Freilich geht Schostakowitsch in der Materialbehandlung, auch im Umgang mit der Tonalität, über Mahler hinaus, was den Eindruck gleichsam bezugsloser Abschnitte, die sich merkwürdig im Gesamtprozess verlieren, noch unterstreicht. Schief scheinen auch die Sätze zueinander zu stehen. Zwei großdimensionierte Ecksätze, wobei im dritten Satz Largo und Allegro gekoppelt sind, umfassen ein lakonisch knappes Intermezzo.
Die Randsätze entwickeln gewaltige Energien mit ungeschlachten Flächenwirkungen. Der Schluss der Symphonie gibt die inhaltliche Ausrichtung an: Ein großangelegter Durchbruch wird angesteuert, er bleibt in einer tosenden Akkordballung hängen. Dann folgt ein über hunderttaktiger Orgelpunkt auf dem Ton C, über dem Motive wie zerplatztes Material verklingen – eine Antiapotheose. Die geistige Entwicklung in der Sowjetunion schlug auf den Ton der Symphonie merklich zurück.

Schon ein Jahr später schrieb Schostakowitsch 1937 seine fünfte Symphonie op. 47 in d-moll. Er selbst bezeichnete sie als „schöpferische Antwort eines sowjetischen Künstlers auf eine berechtigte Kritik“. Beim Hören fallen zwei Aspekte sofort auf. Die Struktur der Symphonie ist entschieden reduzierter und verknappter als die der vorangegangenen Symphonien. Schostakowitsch greift auf Sprachmittel mit spätromantischem Gestus zurück. Doch die gewissermaßen erzwungene Änderung des Stils wurde auf hintersinnige Weise positiv gewendet. Verwirklicht wurde äußerlich ein ‚Durch-Nacht-zum-Licht‘-Prinzip, gleichzeitig integriert die Musik unverhohlen eine Haltung der Trauer, ja der Depression. Das wird schon im Hauptthema des ersten Satzes deutlich: Es ist eine Mischung aus energischem Aufbäumen und abflauender Kraft. Dazu tritt eine gegenüber den symphonischen Vorgängern entschieden verdichtete thematische Arbeit, die konzise zu musikalischen Kraftentladungen und danach zwingend logisch zum Verlöschen (etwa am Schluss des ersten Satzes) führt. Die Sätze zwei und drei, ein bizarr doppelbödiges Scherzo und ein emphatisches Largo, unterstreichen die Dichotomie der Anlage. Und über das Finale soll Schostakowitsch später geäußert haben (in den Memoiren nach Volkow): „Das ist doch keine Apotheose. Man muss schon ein kompletter Trottel sein, um das nicht zu hören.“ In der Tat ist hier ein ‚Durchbruch‘ herbeigeführt, der schon durch die grob ungeschlachte Instrumentierung des Hauptthemas zu Beginn des Finales immer das Moment des Erzwungenen, des Gemachten mitschwingen lässt. Die fünfte Symphonie wäre demnach ‚auf verschiedenen Ebenen‘ zu hören, als Stück einer äußerlichen Anpassung und ‚Läuterung‘ und zugleich als Werk inneren Widerstands und empfundener Tragik.
Reinhard Schulz

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.