Symphonie Nr.14 op. 135 (1969)

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t1 Konzertführer
Dmitri Schostakowitsch
Symphonie Nr.14 op. 135 (1969)

Die Tendenz, auf stilistische Eigenarten seiner früheren Musik zurück – und zugleich westliche, avantgardistische Techniken aufzugreifen, wenn auch in ganz unerwartet origineller Weise, prägt den Charakter der in jeder Hinsicht außerordentlichen vierzehnten Symphonie, die im Frühjahr 1969 entstand. Bereits sieben Jahre früher, als er Mussorgskijs Lieder und Tänze des Todes instrumentierte, trug sich Schostakowitsch mit dem Gedanken, eine Art Fortsetzung dieses Zyklus zu schreiben, allerdings auf symphonischer Basis. Hatte Mussorgskij den Tod als „talentlosen Tor“ bezeichnet, der alles niedermäht, so wollte Schostakowitsch seinen Protest gegen ihn im Namen des Lebens zum Ausdruck bringen. Und mehr noch: Er fasst den Tod in seiner greifbaren, physischen Härte, und das bis in den durchdringend körperlichen Klang der Musik hinein. Trost auf ein Leben nach dem Tode gibt es hier nicht. Es handelt sich um ein atheistisches Requiem mit dem ‚Dies irae‘ zwar, aber ohne Transzendenz. Schostakowitsch nahm jetzt auf niemanden mehr Rücksicht. Alles, was er seit der dreizehnten Symphonie komponierte, verrät die Haltung resignativen Aufruhrs und einer Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit. Die vierzehnte Symphonie steht denn auch völlig quer zur Gattung: Sie ist elfsätzig, ohne deswegen miniaturistisch zu sein, sie enthält ausschließlich Textvertonungen und sie bewegt sich nicht mehr im gewohnten Terrain der Tonalität. Klangliche Härten und schroffer Dissonanzgebrauch (einschließlich modernster Clusterbildungen) stehen ganz im Vordergrund. Schostakowitsch spricht nun das aus, was er so lange verstecken musste und was doch einzig sein Anliegen war: die Liebe zur Wahrheit.

Der elfteilige Zyklus ist keine lockere Folge heterogener Gesänge über das Phänomen des Todes, sondern – wie die Textwahl zeigt – eine durchreflektierte Anlage. Die äußere Gliederung ließe sich wie folgt vornehmen: Auf die ersten beiden Gedichte Lorcas folgen sieben von Apollinaire, eines von dem Dekabristen Wilhelm Karlowitsch Küchelbeker und zwei abschließende Rilke-Gedichte. Das ist freilich nur der Rahmen; bei genauerer Betrachtung ergeben sich weitere Gruppierungen, vielschichtige Beziehungen, inhaltliche Verbindungen und schließlich sogar ein dichtes Netz unterirdischer Wechselwirkungen, die das Werk wahrhaft ‚symphonisch‘ im Innersten zusammenhalten. Abgesehen von der Rahmenfunktion der beiden Lorca- und Rilke-Gedichte, die den Tod in vergleichsweise grundsätzlicher Weise behandeln, allerdings mit höchst unterschiedlichen lyrischen Mitteln, und dem eher konkreten, ‚szenischen‘ Mittelteil, der einzelne Episoden scharf ins Auge fasst, und zwar ohne jede Wehleidigkeit, reicht der inhaltliche Bogen von der bloßen Konstatierung des Todes über Selbstmordsituationen hin zum extremen subjektiven Reflex im neunten Gesang auf ein Gedicht Küchelbekers über den Tod seines Freundes Delwig, der am Aufstand der Dekabristen beteiligt und in Kerkerhaft geraten war. Hier erreicht der von Schostakowitsch gehandhabte musikalische Kosmos die Nähe zum traditionellen Ausdruck, jedoch ohne die Tendenz zur ‚Verklärung‘, die der Text hätte nahelegen können. („Was zählt Verfolgung? Unsterblichkeit ist doch der Lohn erhabener und kühner Taten, der Preis für des Gesanges süßen Ton.“)

Der Beginn des, durch eine Zäsur abgesetzten, zehnten Gesangs führt auch abrupt zurück zur harten Realität des Todes: Kahle Einstimmigkeit begleitet den rezitativischen Gesang, unterbrochen von einem fahlen Choral, der aber völlig unkirchlich wirkt. Die einstimmige Linie der Violinen greift ausdrücklich auf den Anfang der Symphonie zurück und erinnert deutlich an die Intonation des gregorianischen ‚Dies irae‘ – ein überaus seltsamer, verfremdeter Anklang an archaische Musik einer ganz anderen Sphäre und zugleich ein Zeugnis für den unorthodoxen Gebrauch der musikalischen Tradition beim späten Schostakowitsch.
Die stilistische Vielfalt zeigt sich nicht allein bei der Wahl der Texte, sondern ebenso im Gebrauch der musikalischen Mittel: Nie zuvor hat Schostakowitsch eine solche Orchesterbesetzung gewählt wie hier. Es fehlen völlig die Bläser; stattdessen tritt den Streichern ein genau ausgehörtes Ensemble von Schlaginstrumenten gegenüber, das im Wortsinn des tatsächlichen ‚Schlagens‘ verwendet wird. Das ist eine neue klangliche Erfahrung. Niemals treten alle Schlaginstrumente gleichzeitig auf, sondern jeweils einen Aspekt charakterisierend. Manche Sätze werden sogar ganz vom Schlagzeugklang bestimmt, etwa der fünfte mit der refrainartigen Wiederkehr einer fanfarenartig rhythmisierten Zwölftonmelodie, einer makabren Realisierung und Umdeutung der Schönbergschen Reihentechnik. Vorgetragen wird sie vom klappernden Xylophon, das an den Satz Adornos denken lässt: „Verblichene Knochen machen die bunteste Musik.“ Drei Tomtoms schlagen dazu einen Marschrhythmus; damit ist die ‚Szene‘ aufs knappste umrissen. Ein ähnlich ‚atmosphärischer»‘ Gebrauch des Schlagzeugs bestimmt den Charakter des zweiten Satzes (Malagueña): Das Orchesternachspiel, ein wilder Ausbruch, schildert den Tod in der Taverne mit Kastagnettengeklapper. Gespenstische Züge nimmt der Gebrauch von Holzstäben in der Kerkerszene des siebenten Satzes an. Das unerträgliche Warten auf die Exekution wird dabei noch gesteigert durch den geräuschhaft verfremdeten Einsatz der Streicher, die gezupft und mit der Bogenstange geschlagen werden.

Der achte Gesang erhebt Protest „gegen die Henker, die an Menschen die Todesstrafe vollziehen“ (Schostakowitsch). Apollinaires Gedicht Antwort der Zaporoger Kosaken an den Sultan von Konstantinopel bezieht sich auf Ilja Repins bekanntes Gemälde, aber Schostakowitsch geht weit darüber hinaus. Seine Musik ist mehr als das Gelächter. Der Satz gipfelt in einem flirrenden, in sich genau strukturierten Cluster der hohen Streicher, grundiert von dem brutalen Anfangsmotiv in den tiefen Stimmen. Hier wird deutlich, dass Schostakowitsch sich der avantgardistischen Technik aus inhaltlichen Gründen bedient. Damit steht er in der Tradition der Ästhetik Mussorgskijs. Das gilt auch für die beiden Peitschenschläge (!) zu Beginn des dritten Gesangs Loreley und für die synästhetische Vision des Spiegelbildes durch den Klang der gläsernen Celesta in dessen zweitem Teil. Und weil Schostakowitsch, wie auch Mussorgskij, den Tod nicht tragisch oder pessimistisch sieht, sondern nüchtern-realistisch, schreibt er kein tröstliches Ende, sondern einen offenen, herausfordernden Schlussgestus in den letzten Takten der Symphonie, der sich an die Lebenden richtet.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.