Englische Komponisten der Gegenwart

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t1 Konzertführer
Cornelius Cardew, Alexander Goehr, Peter Maxwell Davies, Harrison Birtwistle, Brian Ferneyhough, Gavin Bryars, Thomas Adès, Michael Nyman, Jonathan Lloyd, James Dillon, Oliver Knussen, George Benjamin, Marc-Anthony Turnage
Englische Komponisten der Gegenwart

Cornelius Cardew (1936 – 1981)
Alexander Goehr (geb. 1932)
Peter Maxwell Davies (geb. 1934)
Harrison Birtwistle (geb. 1934)
Brian Ferneyhough – Gavin Bryars (geb. 1943)
Michael Nyman (geb. 1944)
Jonathan Lloyd (geb. 1948)
Benedict Mason (geb. 1952)
George Benjamin (geb. 1960)
Mark-Anthony Turnage (geb. 1960)
Thomas Adès (geb. 1971)

Das traditionell konservative, von künstlerischen Strömungen auf dem Kontinent meist unbeeindruckte und während langer geschichtlicher Phasen wenig innovative englische Musikleben öffnete sich in der zweiten Jahrhunderthälfte, wenn auch mit Verzögerung, dem internationalen Dialog. Seit Anfang der sechziger Jahre rebellierten junge englische Komponisten gegen die als prinzipiell retrospektiv empfundene insulare Tradition (Vaughan Williams, Walton, Britten). Einzelne schlossen sich früh und mehr oder weniger umstandslos den Zirkeln der internationalen Avantgarde an: etwa der hochbegabte Cornelius Cardew (1936 – 1981), der u. a. in Köln bei Gottfried Michael Koenig studiert und Karlheinz Stockhausen assistiert hatte und der, beeinflusst von John Cage, variabel besetzte, teils graphisch notierte experimentelle Stücke von großer Originalität geschrieben hat (seltener auch für Orchester, z. B.: Autumn ’60, 1960; Movement, 1963; Bun Nr. 1, 1965).

Bei aller Offenheit für revolutionäre Entwicklungen und Teilhabe am Experiment versicherten sich andere ihrer Verwurzelung in lebendigen Traditionen. Alexander Goehr, dem 1932 noch in Berlin geborenen Sohn des im selben Jahr zur Emigration gezwungenen Dirigenten und Schönberg-Schülers Walter Goehr, kam im Nachkriegsengland eine Schlüsselrolle zu. Seiner während des Studiums in den frühen fünfziger Jahren ergriffenen Initiative verdankt sich die Gründung der ‚New Manchester Music Group‘, einer losen Interessengemeinschaft im Zeichen des musikalischen Fortschritts, der u. a. die völlig eigenständig sich entwickelnden Komponisten Peter Maxwell Davies und Harrison Birtwistle angehörten. Goehr machte die Kommilitonen mit der Musik Schönbergs bekannt: einem Elixier, das alsbald nachhaltige Kreativkräfte zu beflügeln begann. Gemeinsam begeisterte man sich aber auch für mittelalterliche Techniken und indische Musizierweisen. Geistiger Aufbruch stand auf den Fahnen der Musiker, nicht so sehr das Etablieren einer Schule oder die Formulierung eines ästhetischen Kanons.
Alexander Goehrs eigener künstlerischer Weg führte über die Meisterklasse Olivier Messiaens und die Erfahrungen in Darmstadt (Freundschaft mit Luigi Nono) zu teils langjährigen, mit musikethnologischen Studien verbundenen Aufenthalten in Amerika, Japan, Ungarn, Israel und dem Mittleren Osten sowie China. In seinem vielgestaltigen Schaffen, das alle Gattungen umfasst, sind mannigfaltige Einflüsse auf höchstem künstlerischem Niveau homogenisiert. Mit der Little Symphony (1963) war ihm – auf der Basis von Transformationen serieller, modaler und klanglicher Techniken – eine erste Prägung stilistischer Eigenart gelungen. Sie differenzierte sich im Rahmen komplexer Schreibweisen in vielbeachteten Werken wie Pastorals für Orchester (1965), Klavierkonzert (1972), Metamorphosis/Dance für Orchester (1973/74). Ohne dem Wesen seiner Musik Gewalt anzutun, entwickelte der inspirierende Kompositionsprofessor in Leeds (1971), danach in Cambridge (1976) seit den frühen achtziger Jahren eine neuartige Generalbasstechnik: Deux Etudes für Orchester, 1980/81; Symphony with Chaconne; 1985/86; Eve dreams in Paradise für Mezzosopran, Tenor und Orchester, 1987/88; Still Lands für kleines Orchester, 1988 – 90; Bach Variations für Bläser und Pauken, 1990, Schlussgesang, Sechs Stücke für Bratsche und Orchester (1996).

Die universalste und fruchtbarste Komponistenpersönlichkeit Englands in der zweiten Jahrhunderthälfte ist zweifellos Peter Maxwell Davies (geb. 1934). Nach dem Studium in seiner Heimatstadt Manchester wird ihm ein zweijähriger Aufenthalt bei Goffredo Petrassi in Rom ermöglicht. Sein dort entstandenes Orchesterstück Prolations (1959) verbindet isorhythmisch-abstrakte Konstruktionen, Ragatechniken und serielle Verfahren mit vitalistischer Verve. In England zurück, wendet sich Maxwell Davies musikpädagogischen Fragen zu. Mehrjährige Studienaufenthalte in den USA, u. a. bei Roger Sessions, Vortragsreisen in Europa, Australien, Neuseeland sowie eine Gastprofessur in Adelaide schließen sich in den sechziger Jahren an. Handwerkliche Perfektion und Sinn für neuartige Formzusammenhänge verbinden sich in Arbeiten wie Second Fantasia on John Taverner’s in nomine für Orchester (1964) oder St. Thomas Wake (1969), einem Orchesterfoxtrott auf eine Pavane von John Bull. Keineswegs montierte Maxwell Davies in eklektizistischer Weise nur Versatzstücke aus verschiedenen Stilschichten. Seine Sätze sind auf spektakulär neue Weise ausbalanciert, sie leuchten gewissermaßen in geheimste Bezirke des Psychischen. Stetige Arbeit mit Schülern und Engagement mit spezialisierten Ensembles (‚Pierrot Players‘, 1967 gegründet zusammen mit Harrison Birtwistle) befruchten eine konsequente Weiterentwicklung des eigenen Stils. Seit 1970 lebt Maxwell Davies mehrere Monate im Jahr auf der Orkney-Insel Hoy. Herbes Klima, karge Landschaft, wildes Meer: ein katalytisch wirksames Refugium für die existentielle Suche dieses Künstlers. „Mir wurde klar, dass ich wahrscheinlich bessere Musik schrieb als die Jahre zuvor, weil ich mich konzentrieren musste. Es gibt dort keine Flucht vor sich selbst, man muss sich nur im Klaren darüber sein, was man durch seine Musik ist.“ Maxwell Davies‘ Musik wird geläuterter, durchsichtiger, aber nicht weniger artifiziell. Magisch raunende Bilder aus der archaischen Welt der Wikinger evoziert die Stone Litany – Runes from an House of the Dead (1973) für Mezzosopran und Orchester, ein mehrteilig-durchkomponierter Ritus. Auch in der geheimnisvollen viersätzigen Symphonie Nr. 1 (1967), deren strukturelle Ordnungen zum Teil auf magischen Quadraten beruhen, klingen Atmosphäre und mythengeschwängerter Geist der Orkneys an. Maxwell Davies‘ Opern, seine Symphonien – die ‚atmende‘ Meeresmusik der Dritten (1984), die chiffrenreiche Vierte (1989), die tiefgründige Fünfte (1993), die Siebte (2000) –, seine zahlreichen Orchester- und Vokalwerke, die lange Reihe der Strathclyde Concertos für alle möglichen Soloinstrumente faszinieren trotz ihres entschieden modernen Habitus ein breites Publikum. 1987 wurde der Künstler, Pädagoge und Umweltschützer für sein umfangreiches Schaffen geadelt.

Nicht weniger intensiv, manchmal verschlüsselter, sperriger, mehr der Avantgarde zugeneigt ist die Musik von Harrison Birtwistle (geb. 1934). Auch er hatte zunächst am Royal Manchester College of Music (Klarinette und Komposition) studiert. Nach Studienaufenthalten und Gastprofessuren in den USA war er von 1975 bis 1984 Musikdirektor des Nationaltheaters in London. Der eigenbrötlerische, philosophisch tiefschürfende Meister – 1988 geadelt – lebt seit vielen Jahren in Frankreich. Seine ersten wichtigen Orchesterpartituren waren Nomos (1968; basierend auf einer strophischen Verkettungsform) und An Imaginary Landscape (1971), eine psychedelische Wandelmusik. Von einem Bild Pieter Breughels inspiriert ist The Triumph of Time (1971/72): Zyklische und lineare Chronologien werden in diesem vielschichtigen, symbolbefrachteten Werk ineinander verwoben. Es sind die temporalen Verlaufsformen, die Birtwistle an der Musik etwa des Mittelalters und der Renaissance interessieren, wie auch die ritualisierten Handlungen der antiken Tragödie. Immer wieder evozieren seine manchmal unkonventionell besetzten Werke die Vorstellung eines prozessionshaften Schreitens, dessen sukzessiver Wandel wie aus verschiedenen Perspektiven quasi kubistisch beleuchtet wird. Scheinbar ohne Ziel, muten die Prozesse an wie langsam pulsierende Ausschnitte aus einem potentiellen Immerdar. Prototypisch ist das Trompetenkonzert Endless Parade (1986/87). Auch antiphonale Strukturen, das Gegenüber von einzelnem und Masse, Aspekte der Interaktion werden hier musikalisch durchgespielt. Mit Secret Theatre (1984) hat er ein an der Oberfläche chaotisch wirkendes, subkutan streng geordnetes Gruppenspiel geschaffen, in dem sich das musikalische Material in verschiedenen Gruppen voneinander unabhängig entfaltet: Traumbilder, eine Parade nächtlicher Farben. Der Cantus eines Solisten enthält den Stoff, der jeweils in den Vordergrund tritt. Ähnliche Gesetzmäßigkeiten in den rituellen Earth Dances (1985/86) und den Antiphones für Klavier und Orchester (1992/93), The Cry of Anubis für Tuba und Orchester (1994), Exodus 23: 59: 59 für Orchester (1996/97). Mythisch-rituell auch das melancholische Werk The Shadow of Night (2001), in dem die Piccoloflöte einen ausdrucksstarken Part hat: eine weitere Realisation des Satzmodells Cantus und Continuum. Ob in oratorischen, konzertanten oder kammermusikalischen Werken: Immer wieder ist explizit die Kategorie der musikalischen Zeit das Thema Harrison Birtwistles. In Theseus‘ Game für großes Ensemble (2003) widmen sich zwei Dirigenten einer Musik dreier Zeitebenen. Nacheinander an den Bühnenrand tretende Solisten entspinnen eine lineare, gleichsam endlose Melodie, den ‚Faden der Ariadne‘, während im Labyrinth der Klänge die Zeit kreist.

Einer der profiliertesten und gleichzeitig exzentrischsten Vertreter der internationalen Avantgarde ist Brian Ferneyhough (geb. 1943), der seine Schlüsselerfahrungen während der Blütezeit des Serialismus gemacht hat. Er gilt als die künstlerische Leitfigur der sogenannten ‚New Complexity‘, und die mikroskopisch ausdifferenzierten Satzbilder seiner Partituren muten mitunter an wie geheimnisvolle Koordinatensysteme aus dem Bereich der Naturwissenschaften. Musikalische Konflikte zeitigen klangliche Elementarteilchen, die nach genauen Gesetzmäßigkeiten ins Irrationale zerstieben. Die Kompliziertheit der instrumentalen ‚Mikrostrukturen‘ ist auf die Spitze getrieben und transzendiert nicht selten die Möglichkeiten der Instrumentalisten. Ferneyhoughs intellektualistische ‚ars subtilior‘ – etwa Epicycle für zwanzig Solostreicher (1968), La Terre est un homme für Orchester (1976 bis 79), die von Piranesis gleichnamigen Radierungen inspirierten Carceri d’Invenzione für verschiedene Ensembles (1981 – 86), Maison noire für 22 Streicher (1998 ff.) – soll oder kann als Gewebe von Energie- und Kräftefeldern gehört werden.

Garvin Bryars (geb. 1943) kultiviert eine diametral entgegengesetzte Ästhetik. Vom Jazz und der freien Improvisation herkommend, gelang ihm mit dem suggestiven Stück The Sinking of the Titanic (1969) eine paralysierend schöne Weltuntergangsmusik für flexibles Ensemble, Tonbandzuspielungen, music box, sound effects etc. Seine archaisierend-meditativen, eigenwillig sinnlichen, keineswegs trivialen Werke – etwa The Cross-Channel Ferry für zwölf Spieler (1979), The old Tower of Löbenicht für Ensemble (1987), The War in Heaven für Sopran, Männeralt, Chöre und Orchester (1993), Epilogue from Wonderlawn für Viola, Violoncello und E-Gitarre (oder Klavier oder Harfe) und Streicher (1995), The Porazzi Fragment für 21 Solostreicher (1999) – beruhen z.T. auf minimalistischen Verfahren der Klangverkettung.

Ähnliche neotonale Welten kostet Michael Nyman (geb. 1944) aus. Bekannt wurden seit den siebziger Jahren zunächst seine Filmmusiken. John Cages säkulare Bedeutung hochachtend, schreibt er – „auch wenn sie ihm nicht gefallen hätte“ – hymnische Musik aus raffiniert geschachtelten Skalen und Dreiklängen. Sein Konzert für Klavier und kleines Orchester (1993) basiert auf dem Material seiner Filmmusik für Jane Campions Film The Piano; weitere Werke: MGV – Musique à grande Vitesse für Ensemble (1991); Cembalokonzert (1995); Doppelkonzert für Violoncello, Saxophon und Orchester (1997); Strong on Oaks, Strong on the Causes of Oaks für Streicher (1998).

England besitzt ein offenbar unerschöpfliches Potential unkonventioneller Komponisten, die sich facettenreich und ohne Berührungsängste ‚cross-over‘ im Reich der Stile und Funktionsbereiche bewegen. Dazu gehören unter anderen: Jonathan Lloyd (geb. 1948), ein phantasievoller Poet und postmoderner Symphoniker (Fünfte Symphonie, 1989; Violinkonzert, 1995); der Schotte James Dillon (geb. 1950), der sich, ausgehend auch von der Rockmusik, autodidaktisch mikrointervallisch-hochkomplexe Klangwelten erschloss (Überschreiten für Orchester, 1985; Via sacra, 1999; Violinkonzert, 2000); Benedict Mason (geb. 1952), ein Komponist intelligent-spekulativer Tonkaleidoskope, skurriler Opern, multimedialer Konzertinszenierungen (Music for Concert Halls Nr. 10, 1997); Oliver Knussen (geb. 1952), der sich auch als Dirigent international einen klingenden Namen machte, der Bühnenwerke und schillernd instrumentierte Orchestermusik von großer rhythmischer Komplexität komponiert: Dritte Symphonie, 1973 – 79; Music for a Puppet Court für zwei Kammerorchester, 1983; Flourish with Fireworks (1988); Two Organa für großes Ensemble (1994); George Benjamin (geb. 1960) als Schöpfer naturmystischer Klanglandschaften und Dirigent ein feinsinniger Orchestervirtuose (Ringed by the Horizon, 1979/80; Jubilation für Orchester und Kindergruppen, 1985; Sudden Time, 1990 – 93); Mark-Anthony Turnage (geb. 1960), rock- und jazzkundiger Theatermann und hochbegabtes Enfant terrible einer Orchesterkunst, in der sich Tradition und modernes Lebensgefühl auf unvergleichliche Weise grenzüberschreitend durchdringen (Three Screaming Popes, 1989; Drowned Out, 1993; Your Rockaby, Saxophonkonzert, 1992; Blood in the Floor, 1995; Four-Horned Fandango, für vier Solo-Hörner und Orchester, 1995/96, rev. 2000); Thomas Adès (geb. 1971), der schon in jungen Jahren alle kompositorischen Register virtuos zu ziehen weiß und die Dramaturgie repetitiver Ohrwürmer so gut beherrscht wie den Kontrapunkt der franko-flämischen Meister und der mit unverstelltem Blick die multiperspektivischen Möglichkeiten der Gegenwartswelt zu sondieren und klangsinnlich oder musikalisch-doppelbödig aufzubereiten weiß (Kammersinfonie 1990; These Premises are Alarmed, 1996; Asyla, 1997; America: A Prophecy für Stimme, Chor und Orchester, 1999).

Helmut Rohm

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.