Nocturnes

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t1 Konzertführer
Claude Debussy
Nocturnes

Die traumhafte Szenerie und magische Beleuchtung der Studien in Grau von James Whistler, eines Freundes von Mallarme übrigens, zogen Debussys musikalische Phantasie mehr an als die taghellen Gemälde der ‚Impressionisten‘; luzide Klarheit war nicht Debussys Sache, noch weniger jene Verschwommenheit, die ihm oft unterstellt wird. Die drei Nocturnes für Orchester (und textlosen Chor von Frauenstimmen im dritten Stück) geben darüber genauer Auskunft: Es sind natürlich allesamt Nachtbilder, aber mit scharfem Blick für die Nuancen von Licht und Schatten gesehen, zwei optischen Gegebenheiten, die sich auf die Musik analog übertragen lassen. Debussy hatte eine Musik von gewissermaßen naturhafter Konsistenz im Sinn, wollte drei Arten von Bewegungen – wieder handelt es sich um ein auch der Musik zugängliches Element – darstellen: im ersten Stück (‚Nuages‘) das Ziehen der Wolken am nächtlichen Himmel (und das gelegentliche Durchscheinen des Mondes auch), im zweiten (‚Fêtes‘) diffuse Lichtbewegungen in der Atmosphäre (festliches Treiben auf nächtlicher Straße) und im dritten Stück (‚Sirènes‘) Licht- und Wellenbewegungen auf der flimmernden Oberfläche des mondbeschienenen Meeres, eines mythologischen freilich – die Sirenen sind bekanntlich jene lockenden Frauengestalten, deretwegen sich Odysseus am Mast seines Schiffes festbinden ließ, um von ihnen nicht verführt zu werden –, denn das echte wird Debussy erst sechs Jahre später musikalisch darstellen.

Von den drei Nocturnes fallen denn auch Strahlen auf die späteren Orchesterwerke Debussys: Das mythologische Meer der Nocturnes kehrt, gewissermaßen entmythologisiert, wieder in La mer, das großstädtische Treiben der ‚Fêtes‘ verwandelt sich im Schlussteil von lbéria (‚Le matin d'un jour de fête‘) zum ländlichen Fest mit unüberhörbarem folkloristischen Akzent, und die ‚Nuages‘ verflüchtigen sich zu den schweren, sinnlichen Düften spanischer Nächte im Mittelteil von lbéria (‚Les parfums de la nuit‘). Die Bewegungen setzt Debussy in Klangfarben und in Rhythmik um, entfaltet dabei drei verschiedene Formideen: Im ersten Stück geht es um den Wechsel von Dynamik und Statik der Farbe selbst, konzentriert auf ein fixiertes klangliches Zentrum, im zweiten Stück um die grelle, bunte Fülle – das Stück steht im Tritonusabstand zum ersten, also dem am weitesten möglichen – wechselnder Tempi und Dynamik in einem Tarantella-Wirbel, der auf ein pointiertes Marsch-Thema zusteuert, das seinerseits eine riesige dynamische Steigerung hervorruft, und das dritte Stück bringt durch ausgedehnte Farbbewegungen eine bisher nicht aufgetretene Profilierung der Thematik über den gesamten Ablauf hinweg mit sich. (In den ersten beiden Stücken stechen nur einzelne, charakteristische Themen aus dem Ablauf heraus.) Man fühlt sich genötigt, die Partitur nicht mit musikalischen Fachbegriffen zu erklären, sondern wie ein Bild anzuschauen, denn es gibt nicht mehr die klassische Dialektik von Themenmaterial und seiner Entwicklung im Formprozess, sondern nur noch Reihungen oder Wiederholungen, freilich stets als Umbelichtungen. Die Form ist nichts Gegebenes mehr; sie muss ausgedacht werden, wie die neuartige Syntax auch. Debussys Abneigung gegen die herkömmliche Durchführungstechnik nahm in den Nocturnes erstmals konkrete Gestalt an.

An deren Stelle tritt die sorgfältige und ausgesuchte instrumentale Koloristik, und zwar keine verschwommene, aber auch nicht die distinkt abgesetzte Ravels, sondern eine unmerklich abgetönte. In den ‚Nuages‘ sind es die kühleren Farben, in den ‚Fêtes‘ natürlich die gleißenden und in den ‚Sirènes‘ die warmen Farben (Fis-dur!), Farbe immer doppeldeutig verstanden, als Klang- und Akkord- bzw. Tonartfarbe. Dadurch wird Debussys neuartige musikalische Syntax möglich. Selbst eine einzelne Instrumentalfarbe bekommt Bedeutung: „Das Englischhorn in ‚Nuages‘ setzt jenes neue Atmen der Musik fort, das der Komponist mit der Flöte des Fauns zum Leben erweckt hatte“ (Pierre Boulez).
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.