Arthur Honegger

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t1 Konzertführer
Arthur Honegger
Arthur Honegger

Le Havre, 10. März 1892 – Paris, 27. November 1955

Arthur Honegger erhielt seinen ersten Musikunterricht in seiner Heimatstadt, mit fünfzehn Jahren besuchte er für zwei Jahre das Konservatorium in Zürich, 1913 wurde er Schüler von Vincent D‘Indy und Charles Marie Widor am Pariser Conservatoire. In der französischen Hauptstadt begegnete er Künstlern wie Picasso und Braque, Max Jacob und Blaise Cendrars und schloss sich dem Kreis von Musikern um Jean Cocteau an, die ab 1920 als ‚Gruppe der Six‘ an die Öffentlichkeit traten. In diese Zeit fallen – nach einer bereits ansehnlichen Zahl von Kammermusikwerken und Liedern – seine ersten größeren Kompositionen, die ihn bekannt machen sollten: Das Orchesterstück Pastorale d'été (1920), das Marionettenballett Vérité-Mensonge (1920) und die Programmsymphonie Horace victorieux (1921). Das für seine weitere Entwicklung wegweisende Werk jener Zeit ist jedoch Le roi David, ein „dramatischer Psalm“ (Text René Morax), der 1921 auf der schweizerischen Volkstheaterbühne von Mézières bei Lausanne uraufgeführt wurde. Es war das erste einer Reihe von Bühnenwerken, mit denen Honegger der Gattung des Musiktheaters neue Impulse gab. Dem König David folgten später unter anderem das biblische Drama Judith, ebenfalls nach einem Text von Morax (1925), die dreiaktige Tragödie Antigone nach Sophokles/Cocteau (1924 bis 1927), Amphion (Paul Valéry, 1929), Jeanne d'Arc au bûcher (Johanna auf dem Scheiterhaufen) über einen Text von Paul Claudel (1935), La danse des morts (Totentanz) ebenfalls nach Claudel (1938) und die dramatische Legende Nicolas de Flue, ein patriotisches Schweizer Oratorium über einen Text von Denis de Rougemont (1939).

Leistete Honegger Originäres vor allem auf dem Gebiet des Musiktheaters, so ist er beim breiten Publikum doch in erster Linie bekannt geworden als der Komponist des Orchesterstücks Pacific 231 (1923). Nach seiner Beeinflussung durch Jazz und Music-Hall begeisterte sich Honegger wie viele andere seiner Zeitgenossen in den frühen zwanziger Jahren für die Bewegung, die Schnelligkeit, den Sport, die Welt der Maschinen, die neuen technischen Möglichkeiten ganz allgemein. Ihren Niederschlag fanden diese Neigungen unter anderem im Rollschuhballett Skating-Rink (1922), in Rugby, dem Schwesterwerk zu Pacific, in der ersten Symphonie mit ihren motorisch bewegten Klangmassen sowie – nicht zu vergessen – in der Hinwendung zur Filmkomposition: Honegger komponierte über vierzig Filmmusiken, die meisten zwischen 1934 und 1945.

In den dreißiger und vierziger Jahren entwickelte Honegger eine zunehmende Skepsis gegen über dem Musikbetrieb und, was ihn zunehmend belastete, gegenüber der künstlerischen Produktion überhaupt. Für den überzeugten Humanisten stellte sich die Sinnfrage vollends mit dem Erlebnis des europäischen Faschismus und des Zweiten Weltkriegs. Resignation und Verzweiflung sind denn auch von da an vielen seiner Werke anzuhören. Sie werden auch durch eine unverkennbare Zuflucht zur Religiosität nicht gebannt. Im Bogen der fünf zwischen 1930 und 1950 entstandenen Symphonien spiegelt sich diese zunehmend pessimistische Weltsicht exemplarisch. In seinen 1948 unter dem Titel Incantations aux fossiles erschienenen Reflexionen, Konzertkritiken und Glossen aus den vorangegangenen Jahren (deutsch: Beschwörungen, 1955) hat der sprachgewandte Komponist seine Überzeugungen auch verbal zum Ausdruck gebracht. In polemischer Schärfe kritisiert er die Verkümmerung des Repertoires auf eine Handvoll Standardwerke aus Klassik und Romantik; die Ursache sieht er in ökonomischen Zwängen einerseits und in der Trägheit von Veranstaltern, Interpreten und Publikum andererseits – ein Teufelskreis, in dem die zeitgenössische Musik, wie er resigniert feststellt, überhaupt keine Chance habe.

Honeggers Produktivität ließ nach dem Krieg keineswegs nach; es entstanden unter anderem noch die letzten beiden Symphonien (1946 und 1950), die Suite archaïque und die Monopartita (beide 1951) für Orchester, die Weihnachtskantate (1953) sowie zahlreiche Bühnen-, Film- und Radiomusiken. Er war international bekannt und wurde gefördert, unter anderem von Paul Sacher, der sich als Dirigent und Mäzen mit Nachdruck für ihn einsetzte. Seine innere Vereinsamung nahm jedoch zu, verstärkt durch eine 1947 beginnende Herzkrankheit. 1955, im Alter von dreiundsechzig Jahren, starb Honegger in seiner Pariser Wohnung an einem Herzschlag.
In den frühen Orchesterwerken Honeggers sind die Einflüsse des Impressionismus hörbar oder, wie in der Bühnenmusik zum Mysterienspiel Le dit du jeu du monde nach Paul Meral (1918), auch Anklänge an die Instrumentationstechnik von Richard Strauss. Pastorale d'été (1920) für Streicher und einfach besetzte Bläser reduziert die Orchestertechnik der Impressionisten auf einen einfachen, in Linienführung und Tonalität übersichtlichen Satz von volkstümlich-heiterer Grundstimmung. Das gefällige kleine Werk mit dem Rimbaud-Zitat „J'ai embrassé l'aube d'été“ („Ich habe des Sommers Morgenröte umschlungen“) als Motto erhielt 1921 den Verley-Preis, bei dem die Zuhörer selbst die Preisrichter waren. In hartem Kontrast zu dieser freundlichen Naturimpression steht das kurz darauf (1921) entstandene Orchesterpoem Horace victorieux, eine „mimische Symphonie“ über die Eroberung Roms in sieben Szenen nach Titus Livius. Die Bezeichnung ‚Programmmusik‘ lehnte Honegger ab, obwohl das Kampfgetümmel zwischen Horatiern und Kuratiern, in das noch eine tragische Liebesgeschichte hineingewoben ist, mit einer Bildkraft geschildert wird, die manchmal beinahe an Filmmusik erinnert. Mit schrillen Dissonanzen, aggressiven Rhythmen und einem aufgewühlten Orchestersatz ist es eine der radikalsten Partituren Honeggers, in der die zentrifugalen Kräfte über jede formale Ausgewogenheit triumphieren.

In Pacific 231 (1923) werden diese eruptiven Kräfte konstruktiv gebändigt. Das Stück ist konzipiert als figurierter Choral über einen Cantus firmus. Die Nummer des Lokomotivtyps verweist zugleich auf den konstruktiven Motivkern, die Tonstufen 1-2-3. Als klingende Metapher für das Erlebnis der Geschwindigkeit, für den Triumph der – noch stets vom Menschen beherrschten – Maschine und für das technische Zeitalter überhaupt ist diese musikalische Bewegungsstudie weltbekannt geworden. Der Faszination des mit großer Stringenz und Ökonomie der Mittel ausgeführten Komposition kann man sich bis heute nicht entziehen. Honegger schrieb dazu: „In Pacific 231 wollte ich nicht den Lärm der Lokomotive nachahmen, sondern einen visuellen Eindruck und einen physischen Genuss ins Musikalische übersetzen. Das Werk geht von der objektiven Anschauung aus: Das ruhige Atemschöpfen der Maschine im Stillstand, die Anstrengung beim Anziehen, das allmähliche Anwachsen der Schnelligkeit – bis zum lyrisch-pathetischen Zustand eines Zuges von dreihundert Tonnen, der mit 120 km/h durch die tiefe Nacht stürmt.“ Diesen Beschleunigungs- und Verdichtungsprozess erreicht Honegger durch eine sukzessive Verkürzung der rhythmischen Proportionen, verbunden mit einer raffinierten Polyphonie von musikalischen Schichten mit unterschiedlicher Zeitstruktur. Das Ernest Ansermet gewidmete Stück erinnert an die Bilderwelt von Fernand Leger; in seiner Nachfolge entstanden unter anderem Prokofjews Ballett Les pas d'acier und Alexander Mossolows kurzes Orchesterstück Die Eisengießer. Die mit Pacific 231 eingeschlagene Linie führte Honegger später in zwei Kompositionen weiter. Die erste ist Rugby (1928), zu der er schrieb, er wolle darin „die Angriffe und Gegenangriffe während des Spiels, die Bewegung und Vielfalt eines Matches“ in seiner musikalischen Sprache ausdrücken; zugleich verwahrte er sich aber auch hier wieder gegen den Ausdruck ‚Programmmusik‘. Als später Nachklang entstand 1932, für Furtwängler und die Berliner Philharmoniker geschrieben, noch ein Orchesterstück, das Honegger einfach Mouvement symphonique No. 3 nannte, um programmatische Festlegungen zu vermeiden – ein schweres, pathetisches Allegro marcato von monumentaler Wucht.

In den fünf Symphonien erreicht Honeggers orchestrale Kompositionstechnik einen Höhepunkt, stößt aber zugleich an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Die erste Symphonie (1929/30), Sergej Koussevitsky und dem Bostoner Orchester gewidmet, folgt noch ganz der Linie der massiven, konstruktiv gebändigten Klangentfaltung, wie sie durch Pacific vorgegeben wurde. In dem tonal auf C zentrierten Kopfsatz kontrastieren harte maschinelle Achtelrhythmen mit chromatisch gleitenden Blechbläserchören und synkopierten Akkordblöcken. Der Adagio-Mittelsatz exponiert eine weiträumige, rhythmisch präzis artikulierte Streichermelodie, die sich bis zum klanggewaltigen Tutti verdichtet. Zu Beginn des Schlusssatzes (Presto) wird durch sukzessive Hinzufügung von Kontrabass/ Kontrafagott, vier Hörnern, Fagotten, Bassklarinette, Englischhorn, Trompete und schließlich Streichern die rhythmisch-klangliche Gestalt des Themas schrittweise synthetisiert. Es handelt sich um ein Additions- und Überlagerungsprinzip, das im Grunde genommen schon Rossini in seinen großen orchestralen Steigerungen praktizierte und das bei Honegger zu einem oft benutzten Grundmuster des formalen Aufbaus wird. Das Presto mündet zum Schluss überraschend in ein harmonisch geglättetes, von Bläserlyrik dominiertes Andante tranquillo.

Über ein Jahrzehnt später, im Kriegsjahr 1941, entstand die zweite Symphonie, eine Streichersymphonie mit Trompete ad libitum. Im ersten Satz ist ein mehrmals wiederkehrendes, dreitöniges Lamento-Motiv der Bratsche einem Allegro im ‚tempo giusto‘-Charakter gegenübergestellt. Die klagende Geste dieses Bratschenmotivs kehrt im Mittelsatz, Adagio mesto, als ein Hauptgedanke wieder. Die über dem Werk lastende Düsterkeit weicht im virtuosen dritten Satz nicht. Das musikalische Geschehen verknäuelt sich zusehends, bis die Peripherie erreicht wird: Der Einsatz der Solotrompete, die nach Bach‘scher Cantus firmus-Art eine Choralmelodie über dem bewegten Streichersatz bläst, hat eine wahrhaft befreiende Wirkung, die Spannung löst sich. In dieser Dramaturgie des Werkes tritt ein bekenntnishafter Zug zutage, der für viele rein instrumentale Werke Honeggers charakteristisch ist.

Besonders deutlich wird dies in der dritten Symphonie (1945/46). Sie trägt den Beinamen Liturgique – ihre drei Sätze sind überschrieben mit „Dies irae“, „De profundis clamavi“ und „Dona nobis pacem“. Mit dreifachem Holz, vier Hörnern, Klavier und Schlagzeug nebst den Streichern lässt Honegger im ersten Satz eine klangmächtige Vision des Jüngsten Gerichts erstehen. Im zweiten, sehr langen Satz werden durch Verwendung extremer Lagen (zum Beispiel Violoncello in Sopranlage; instrumentales Skandieren von Text aus dem De profundis mit Kontrabass, Kontrafagott und Klavier) und durch eine entfaltete Orchesterpolyphonie ungewöhnliche Ausdrucksqualitäten freigesetzt. Der dritte Satz mit seinem düsteren Grundton kippt gegen Ende in ein Adagio um, das mit Streichersoli und hohen Piccolofigurationen Utopie und Friede signalisiert – eine Wendung, die nach dem Vorangegangenen wegen ihrer einfachen Machart nicht unbedingt überzeugt, aber vielleicht gerade in diesem Nichtgelingen eine tiefere geschichtliche Wahrheit enthält.

In der vierten Symphonie (1946) versucht Honegger zu einer mehr heiteren Ausdruckshaltung zurückzukehren. Technisch geschieht das durch eine erstaunliche Vielfalt an melodischen Gestalten und eine für ihn ungewöhnliche kammermusikalische Auflichtung des Satzes. Helle Klangfarben dominieren, die sonst üblichen Klangmassierungen fehlen weitgehend (die Bläser sind nur doppelt besetzt). Der Schlusssatz baut sich wieder nach dem Überlagerungsprinzip auf; sein Scherzo-Charakter wird durch einen stark diskontinuierlichen Verlauf und sogar einen Adagio-Einschub gebrochen. Mit dem Zitat eines Fastnachtsmarsches aus Basel unter Verwendung der charakteristischen ‚Basler Trommel‘ (Rührtrommel) und der Piccoloflöte endet diese Paul Sacher gewidmete Symphonie mit dem Beinamen Deliciae Basiliensis doch noch in einem burlesken Kehraus.

Die fünfte Symphonie (1950) verwendet wieder große Besetzung. Der erste Satz setzt mit einem Klang wie einer brausenden Orgelmixtur ein, der ins Mystische umgefärbt wird und am Schluss in einem tiefen Pizzicato versackt. Die resignativ absinkende Kadenzwendung wiederholt sich in allen drei Sätzen. Wegen dieses dreimaligen Endes auf dem Ton d trägt die Symphonie den Titel di tre re. Während der zweite Satz (Allegretto) kammermusikalisch locker und farbig instrumentiert ist, greift Honegger im Allegro marcato des Finales auf die aggressive Marschgestik der früheren Werke zurück. Der Klang ist durch Flatterzunge, Martellato und dissonante Harmonik grell und scharf, die Form verknappt. Mit der ausweglos pessimistischen Grundstimmung besitzt diese letzte Symphonie Honeggers die Merkmale einer negativen Utopie.

Honegger, zwischen den Kulturen aufgewachsen, vereint in seinem Werk deutsche und französische Einflüsse. Bachs Musik prägte ihn früh, Beethoven und Wagner bedeuteten ihm viel. Auf der anderen Seite schrieb er mit Johanna auf dem Scheiterhaufen ein Werk, das nicht nur vom Thema, sondern auch von der Behandlung der Sprache und des musikalischen Materials her ‚französischer‘ nicht sein könnte. In der ‚Gruppe der Six‘ galt er wiederum eher als Außenseiter. Es war ohnehin ein sehr heterogenes Häufchen. Milhaud bemerkte: „Auric und Poulenc waren Anhänger von Cocteau, Honegger der deutschen Romantik und ich der südländischen Melodik.“
Im undogmatischen Umgang Honeggers mit den überlieferten musikalischen Gattungen und im Interesse für die ‚angewandte Musik‘ von der Volkstheaterbühne bis zu den neuen Medien Film und Radio zeigt sich sowohl pragmatische Aufgeschlossenheit gegenüber dem gesellschaftlich Neuen als auch die Suche nach einer neuen sozialen Verantwortung von Musik und Musiker. Seine zivilisationskritischen Gedanken und seine Auffassungen von einer neuen musikalischen Ethik berühren sich in manchen Punkten mit denjenigen des um drei Jahre jüngeren Paul Hindemith. Auch seine musikalische Reaktion auf die Konflikte der Epoche: Bei aller Radikalität in den frühen zwanziger Jahren löste sich Honegger nie ganz von der tonalen Harmonik. Die Dodekaphonie verwarf er als dogmatisches Regelwerk, die daraus entstehende Musik war für ihn blutleerer Intellektualismus. Im Bemühen um „gesellschaftliche Nützlichkeit“ und um Klarheit der inhaltlichen Botschaft praktizierte er nach seiner radikalen Phase sogar das, was Hanns Eisler als „Zurücknahme“ bezeichnet hat, wenn auch ohne dessen politische Stoßrichtung: eine gleichsam operationelle Einfachheit, zugeschnitten auf die Aufführungs- und Rezeptionsbedingungen eines Werkes. Das geht bis zur Mitwirkung von Laienchören und zur Verwendung von Volkslied-Zitaten und einstimmigen tonalen Melodien. Diese Einfachheitskonzepte sind ohne den Einfluss des Neoklassizismus kaum denkbar. Charakteristisch für Honeggers Musiksprache sind komplexe Mixturklänge, Quartenharmonik und durch Sekunden und Septen dissonant geschärfte Terzenakkorde sowie die polyphone Führung ganzer musikalischer Schichten. Diese technischen Verfahren sind bei ihm indes nicht immer frei von der Gefahr der Hypertrophie. Ausdruckssteigerung erscheint oft als Resultat einer quantitativen Steigerung der Mittel – durch Vervielfachung der Stimmen und damit Massierung des Klangs – und weniger als Produkt einer Differenzierung im Innern des Materials.

Max Nyffeler

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.