Symphonie Nr. 5 B-dur

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t1 Konzertführer
Anton Bruckner
Symphonie Nr. 5 B-dur

Bruckner nannte die fünfte Symphonie sein „kontrapunktisches Meisterstück“, auch seine „phantastische“. Damit verweist er auf den besonderen Charakter dieser Symphonie, die weder etwas mit der Symphonie fantastique von Berlioz noch mit kontrapunktischen Spielereien zu tun hat: „Contrapunct ist nicht Genialität, sondern nur Mittel zum Zweck“ (Bruckner). Aus Bruckners Worten spricht vielmehr das Selbstbewusstsein eines Komponisten, der sich auf der Höhe seiner Schaffenskraft befindet (ähnlich wie Gustav Mahler mit seiner fünften Symphonie eine „Symphonie der Realitäten“ schuf). In den Jahren 1873 bis 1875 komponierte Bruckner hintereinander die Erstfassungen der dritten, vierten und fünften Symphonie und stieß damit zu unvergleichlichen musikalischen Welten vor, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der Konzeption einer ausdrücklichen Final-Symphonie erreichten, erstmals wieder nach Mozarts letzter Symphonie und Beethovens fünfter. Der häufig geäußerte Vorwurf, Bruckner habe sozusagen neunmal die gleiche Symphonie komponiert, lässt sich bei genauerer Betrachtung seiner Symphonien natürlich nicht halten. Allein die Konzeption einer Final-Symphonie, deren dramaturgischer Gipfelpunkt am Schluss des letzten Satzes liegt – in der achten Symphonie wird Bruckner diese Konzeption, freilich verwandelt und ohne den drastischen Kontrapunkt der Fünften, ein weiteres Mal verwenden –, ist ein außerordentlicher Sonderfall bei Bruckner; das Gegenteil dazu ist zum Beispiel die ‚kopflastige‘ sechste Symphonie, deren absoluter Höhepunkt bereits beim Repriseneintritt des ersten Satzes (!) zu finden ist. So hat jede Symphonie Bruckners ihre eigene innere Dramaturgie, ganz abgesehen von der schier unbegreiflichen musikalischen Phantasie, die Bruckner jeweils investierte. Die Frage der Gewichtsverteilung innerhalb der zyklischen Anlage jeder seiner Symphonien erhob sich in der Situation nach Beethoven durch den Traditionsverlust geordneter Abstufung der Sätze zueinander. Die innere Dramaturgie war für die Wiener Klassiker keine Sache der kompositorischen Gestaltung, sondern konnte der Konvention entnommen werden. Erst Bruckner sah sich genötigt, außer den musikalischen Details auch die Form selbst gewissermaßen zu ‚erfinden‘ und plante deshalb sorgfältig die Gewichtsverteilung der Sätze untereinander. Für die fünfte Symphonie heißt das: Die ersten drei Sätze sind die ‚Vorbereitung‘ – allerdings welche Vorbereitung! – zum riesigen Finale, das deshalb auch zu Beginn sowohl auf die – bei Bruckner übrigens einmalige – langsame Einleitung der Symphonie als auch auf die Anfänge aller vorhergegangenen Sätze resümierend und atemholend zurückgreift, bevor es in das Dickicht des Kontrapunkts geht.

Doch damit nicht genug: Diesen übergeordneten zyklischen Gedanken ergänzt Bruckner mit der konsequenten thematischen Verknüpfung der Sätze, die so weit geht, dass der linearen Steigerung der Gesamtentwicklung bis hin zum absoluten Höhepunkt am Schluss des Finales, wo sich gleichsam der Himmel öffnet, eine Bogenform als architektonische Abstützung entgegengestellt wird: Die Ecksätze beziehen sich aufeinander wie ein äußerer Kreis, und die beiden Mittelsätze, der innere Kreis, sind sogar direkte Varianten voneinander. Diese doppelte Verzahnung der dramaturgischen Anlage zeigt, dass es Bruckner hier tatsächlich um das ‚Meisterstück‘ einer kompositorischen Gestaltung geht, die sich im Inneren der Sätze, ja bis in den Einzeltakt hinein fortsetzt: Bruckner gebietet gerade in dieser Symphonie über eine kombinatorische Phantasie, die – gemessen an dem, was gemeinhin unter Kontrapunkt verstanden (und gelehrt) wird – keine Grenzen kennt, außer der, die durch die tonale Harmonik gesteckt ist.

Das Prinzip der Themenkombination, das in der Durchführung des ersten Satzes exponiert wird, fortgesetzt in der für Bruckner recht lakonischen Coda – Bruckner behält sich den Atem für das Finale vor –, wird in der Doppelfuge des Finales in einen Ablauf gebracht, der noch weitere Themenkombinationen in einem Entwicklungsprozess allmählich enthüllt. Die Formidee des Schlusssatzes ist denn auch überwältigend und von einleuchtender Stringenz: Es sollen die kontrapunktischen Zusammenhänge der Themen schrittweise enthüllt werden; das ist der tiefere Sinn des Rückgriffs auf die früheren Sätze, und das meint Bruckner, wenn er von seinem „kontrapunktischen Meisterstück“ spricht. „Phantastisch“ daran ist die Dialektik von strengster Konstruktion und scheinbarer Freiheit der kombinatorischen Phantasie. Was Bruckner einst bei Simon Sechter in harter Arbeit erlernt hat, über das gebietet er in der Fuge der fünften Symphonie in vollster Souveränität. Die der traditionellen Durchführung entsprechende Mitte des Satzes ist eine Doppelfuge über dessen Haupt- und ein eigens eingeführtes Choralthema (nach dem dritten Thema). Als Resultat dieser Durchführung erscheint die in zwei Unisonoblöcken lapidar hingestellte Kombination der beiden Fugenthemen, ein klangliches ‚Quod erat demonstrandum‘. Als nächste Steigerungsstufe – der Satz steigert sich spiralförmig – wird, nach der Reprise, das Hauptthema des ersten Satzes in allmählichem Entstehungsprozess in das Finale mit einbezogen und seine kontrapunktische Verwandtschaft mit dem Hauptthema des Finales enthüllt. Die große Synthese und – der äußerlichen, klanglichen Prachtentfaltung nach – den Durchbruch ins Freie bringt der Choraleintritt beim absoluten Höhepunkt in der Coda, neuerlich kombiniert mit dem Hauptthema des Finales (beide in vergrößerten Notenwerten). Der letzte, entscheidende Aufstieg zu diesem Gipfel des Ausdrucks gehört zu Bruckners suggestivsten Steigerungswellen, die den Hörer die darin investierte kompositorische Kunst völlig vergessen lassen.

Bruckner arbeitete an seiner fünften Symphonie vom 14. Februar 1875 mit Unterbrechungen bis zum 4.Januar 1878. Die erste Partiturniederschrift trägt das Schlussdatum 16. Mai 1876. Ein Jahr später, am 18. Mai, schloss er die erneute Durchsicht des Finales ab, und zwischen dem 19. Mai und dem 11. August (1877) legte er letzte Hand an die restlichen Sätze. Bruckner hat die Symphonie im Orchesterklang niemals gehört, und er wäre erstaunt gewesen, was bei der Grazer Uraufführung am 8. April 1894 – der Komponist war damals bereits sterbenskrank –, für die Franz Schalk eine unsägliche Spielfassung mit drastischen Kürzungen der Doppelfuge und der Reprise des Finales sowie zahlreichen Uminstrumentierungen im Sinne des Wagner‘schen Mischklangs vorgenommen hatte, von seinem „Meisterstück“ übriggeblieben war, damit es dem Publikum überhaupt zugemutet werden konnte. Die echte Uraufführung nach Bruckners autographer Partitur fand erst am 28. Oktober 1935 in München statt: Siegmund von Hausegger dirigierte die Münchner Philharmoniker.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.