Symphonie Nr. 3 d-moll

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t1 Konzertführer
Anton Bruckner
Symphonie Nr. 3 d-moll

Ähnlich wie Beethovens Eroica markiert Bruckners dritte Symphonie einen qualitativen Sprung in der Entwicklung des Komponisten. Sie ist auch die Symphonie, die letzten Endes nie fertig wurde. Innerhalb von sechzehn Jahren, in mehreren Schaffensschüben, quälte sich Bruckner mit den Geistern ab, die er selber herbeigerufen hatte, und seien es auch die wohlmeinenden Ratgeber, darunter seine Schüler Franz und Josef Schalk. Als Wagner-Symphonie geplant, endete sie im Format einer handlichen Fassung von etwa einstündiger Aufführungsdauer, und zwar mit einem Finale, das in seiner unbarmherzig verstümmelten Form nur noch den Schatten dessen repräsentiert, was Bruckner ursprünglich im Sinn hatte. (Diese letzte Kürzung stammt denn auch nicht in jedem Detail von ihm, sondern von Franz Schalk.) Im Zusammenhang mit der dritten Symphonie haben wir es mit dem unlösbaren Problem zu tun, welche Beweggründe bei den verschiedenen Umarbeitungen eine Rolle gespielt haben und wie sie im Einzelnen zu bewerten sind. Die Bruckner-Forschung hat da bislang wenig Stellung genommen, stellte ‚nur‘ die Partituren im Rahmen der zweiten Gesamtausgabe (Leopold Nowak) zur Verfügung, und zwar ausschließlich nach den Autographen Bruckners. Die beiden zu Lebzeiten Bruckners erschienenen Druckfassungen (1878 und 1890) sind daher als nicht authentisch zu betrachten, zumal Bruckner, wie wir wissen, sich nicht darum zu kümmern pflegte und auch niemals Korrektur las. Er wusste, dass er seine Autographe für „spätere Zeiten“ geschaffen hat. So kommt es zu dem überaus merkwürdigen Sachverhalt, dass die Frühfassungen erst in unseren Tagen zur Uraufführung gebracht werden konnten. Für die Aufführungspraxis ist jedoch die Beantwortung der Frage, welches denn nun die ‚optimale‘ Spielfassung sei, die einzig entscheidende. Bislang hat sich an der alleinigen Durchsetzung der dritten Fassung (1889) kaum etwas geändert, obwohl die anderen beiden Fassungen greifbar sind. Die Macht der Gewohnheit ist offensichtlich bei den Dirigenten (und Orchestern) größer, als der Mut zur Wahrheit. Die Wahl der ‚richtigen‘ Fassung – in der französischen Bruckner-Forschung wird eindeutig die mittlere Fassung von 1877 favorisiert – setzt allerdings auch die genaue Kenntnis der Unterschiede aller drei Fassungen (einschließlich der Zwischenfassung des Adagios aus dem Jahre 1876) voraus und vor allem: deren ästhetische Bewertung. Bruckner selbst unterschied seine Fassungen nach dem pragmatischen Bedürfnis der Aufführbarkeit – dies gilt insbesondere für die Druckfassungen – und seinen eigenen kompositorischen Vorstellungen, die, wie er es selbst formulierte, einer (verständnisvolleren) Zukunft vorbehalten sein sollten. Deshalb vermachte er ausdrücklich, gewissermaßen als stillen Protest gegen den Zeitgeist, die autographen Partituren der Wiener Hofbibliothek (heute: Nationalbibliothek), verstand sich also als einen Komponisten der ‚Zukunft‘, jedoch nicht mit dem Anspruch, den Wagner damit erhob.

Bruckner hat aber niemals Auskunft darüber gegeben, welche der Fassungen als definitiv zu betrachten sei. Die dritte Symphonie liegt demnach als eine Art ‚work in progress‘ vor, dessen letztgültige Formulierung möglicherweise gar nicht zu realisieren war. Das betrifft vor allem das Finale, das von Fassung zu Fassung immer mehr an formaler Konsistenz und logischer Stringenz einbüßte. Hier fällt denn auch die Entscheidung für die am ehesten ‚ausgewogene‘ Fassung von 1877 nicht schwer, denn in der verstümmelten Fassung Franz Schalks – teilweise von Bruckner, eben aus den erwähnten pragmatischen Gründen, gebilligt – fehlt die wegen des formalen und inhaltlichen Gleichgewichts unverzichtbare Reprise fast vollständig (!), sodass die Coda hier nicht mehr organisch aus dem Satzzusammenhang herauswachsen kann und zum Schlusseffekt regrediert. Die erste Fassung, als Abschrift in der Widmungspartitur für Richard Wagner zufällig erhalten geblieben, dokumentiert Bruckners ungestört wuchernde musikalische Phantasie, enthält sie doch, namentlich in den Ecksätzen, immer wieder assoziative Freiräume, die teilweise die Form ins Ungebändigte hineintreiben, uns heute aber einen faszinierenden Einblick in Bruckners ursprüngliche Erfindungskraft gewähren. Solche assoziativen Abschnitte versuchte Bruckner in den weiteren Fassungen einem strengeren Verlauf zuliebe durch stärkere thematische Konzentration oder gelegentlich ausgearbeitete motivische Profilierung, besonders bei ursprünglich rein klanglich angelegten Passagen (etwa der Kulmination am Ende des dritten Themas im ersten Satz, deren Choralthema erst 1877 hinzugefügt wird), zu ersetzen, nicht immer mit Erfolg. Oder er entwarf, beispielsweise für das Adagio, von Fassung zu Fassung geänderte Formverläufe, sodass schließlich, in einer Annäherung an die konventionelle Hörgewohnheit, der ursprünglich verwickelte, fünfteilige Formplan zum einfachen dreiteiligen wurde. Das Adagio von 1889 ist nicht nur erheblich anders und kürzer (wenn auch kaum ‚geschrumpft‘) als das früheste, sondern wurde aus dem gleichen Ausgangsmaterial entwickelt. Die beiden unterschiedlichen Formkonzeptionen sind dagegen unvergleichbar. Wer wollte hier die Kategorien ‚besser‘ oder ‚schlechter‘ anwenden? In der Reprise des Adagios stoßen wir dennoch wieder auf das Problem einer zusätzlichen motivischen Profilierung in der letzten Fassung, die in diesem Fall von recht zweifelhafter Provenienz ist: Es handelt sich um das möglicherweise von Franz Schalk hinzugefügte Trompetenthema in dem Tuttiausbruch vor der Coda, der ursprünglich rein klanglich konzipiert war. Ganz im Sinne der Tendenz Bruckners, bei Umarbeitungen solche Stellen thematisch ‚anzureichern‘, griff Schalk zu dem wenig überzeugenden Mittel der banalen Trompetenfanfare. Das Problem der Beurteilung der Fassungen Bruckners wird dadurch noch verwirrender, dass Bruckner keineswegs nur Kürzungen vornahm, sondern ebenso Verdichtungen und sogar Erweiterungen, oft auch Alternativgestaltungen. Das war möglich, weil Bruckners Formvorstellung dem nicht widerspricht; er konnte stauchen oder dehnen, ohne dass damit der Formverlauf nachhaltig gestört wurde. Anders steht es dagegen mit den willkürlichen Strichen, die nur in den Druckfassungen erscheinen.

Die Fassung von 1877, die Bruckner als einzige auch selbst zur Uraufführung gebracht hat, wenn auch mit dem größten Fiasko seines Lebens (16. Dezember 1877), scheint die Werkkonzeption der dritten Symphonie am besten zu repräsentieren; so lautet jedenfalls die Ansicht der derzeitigen Bruckner-Forschung. Und es ist kaum verwunderlich, dass es gerade die Wagner-Symphonie war, die Bruckner so viel Zeit und Skrupel abgefordert hat, denn sie ist die erste vollgültige Bruckner-Symphonie von außerordentlichem Format und weiter entfernt von Wagner, als alle späteren Symphonien. Daran ändern auch die eher rührenden Wagner-Zitate (‚Schlafmotiv‘ aus der Walküre) nichts, die Bruckner – als Huldigung an den „Meister“ – in die Erstfassung einstreute, und zwar an formalen Angelpunkten des ersten Satzes (kurz vor dem Eintritt der Reprise und vor dem letzten Tuttiausbruch der Coda). Später hat er sie, bis auf die Wiederkehr des Zitats am Schluss des Adagios, selbstverständlich gestrichen. Er wusste genau, wer er war.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.