Symphonie Nr. 2 c-moll

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t1 Konzertführer
Anton Bruckner
Symphonie Nr. 2 c-moll

Die zweite Symphonie ist Bruckners erste in Wien komponierte Symphonie und zugleich der Anlass für die ‚wohlmeinenden Ratschläge‘ Außenstehender, die Eigenart seiner Symphonik der Konvention anzunähern, wie es bis zur achten Symphonie immer wieder durch Freunde oder sogar Schüler Bruckners geschah. Nach der Uraufführung der Erstfassung der zweiten Symphonie mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung des Komponisten am 26. Oktober 1873 zur Schlussfeier der Wiener Weltausstellung mischten sich in den Chor der begeisterten Stimmen auch bereits die ersten Misstöne der besserwisserischen Praktiker ein, so etwa des Wiener Kapellmeisters Johann Herbeck, der es tatsächlich fertigbrachte, dass Bruckner eingreifend Hand an die Partitur legte und sogar Kürzungen vornahm, die nicht zum Segen des Werkes ausschlugen. (Bei der dritten Symphonie kürzte er sogar im Verlauf der Umarbeitungen so viel, dass in der letzten Fassung die Gesamtlänge einer gewöhnlichen Symphonie, etwa von Brahms, herauskam.) Nach der Erstaufführung dieser zweiten Fassung, ebenfalls mit den Wiener Philharmonikern unter Bruckners Leitung am 20. Februar 1876, nahm er die Partitur noch einmal vor und gab ihr den letzten Schliff.
Bis heute hat das jedoch für die Rezeption nichts genützt, denn die zweite Symphonie ist, neben der sechsten Symphonie, die am wenigsten gespielte geblieben. Nach dem unbotmäßigen Wurf der ‚Sturm-und-Drang‘-Symphonie Nr. 1 wirkt die zweite in der Tat wie ein Rückfall, aber das täuscht. Denn andererseits exponiert sie deutlicher als die erste den künftig für Bruckner kanonischen Formverlauf und vor allem die kahle Zweistimmigkeit des dritten Themas im ersten Satz. Die ‚Linzer‘ c-moll-Symphonie blieb ein Einzelfall überschäumenden Temperaments und einer kaum wiederholbaren Originalität. Bruckners Weg als Symphoniker war ein anderer: der ‚dramatische‘ Zugriff war seine Sache nicht. Zu einem Dirigenten sagte er einmal freimütig auf dessen lobende Bemerkung hin, eine Stelle sei ganz besonders „dramatisch“, das sei ganz gleichgültig. Bruckner dachte in anderen Dimensionen. Das Herumnörgeln an der zweiten Symphonie, sie lasse den Tonfall der ersten vermissen und es wäre schön, wenn sie die Höhe der dritten Symphonie erreicht hätte, führt zu nichts, denn ihre Eigenart lässt sich am besten erkennen, wenn man sie so nimmt, wie Bruckner sie – in der Erstfassung natürlich – konzipierte.

Allen Ernstes glaubte Bruckner, die zweite Symphonie sei „wohl die fürs Publikum zuerst verständlichste“ (Brief vom 9. Oktober 1878). Der Uraufführungserfolg könnte ihm recht geben, und das Fiasko der Uraufführung der dritten Symphonie (am 16. Dezember 1877) steht unmittelbar hinter dem Brief wie ein traumatisches Ereignis, sodass allein daraus Bruckners Wunsch, wenigstens die „zahme“ zweite Symphonie möge vor dem Publikum Gnade finden, nur allzu verständlich ist. Aber bis heute ist dem nicht so. Der musikalische Tonfall, den Bruckner hier anschlägt, ist denn auch befremdlich genug: Man spürt deutlich eine Zurücknahme der vergleichsweise extrovertierten ersten Symphonie. Bruckner redet plötzlich elegisch – man höre nur das zaghafte, klagende Hauptthema des ersten Satzes! – und gar nicht mitreißend. Aber zugleich greift er erheblich weiter aus, tastet größere Räume ab, ohne diese gleich zu beherrschen. Was ist mit Bruckner seit 1868, als er nach Wien übersiedelte, geschehen?
Er selbst hat gesagt, dort habe man ihn gehörig „zusammengeschreckt“. Im August 1871 triumphiert er noch als Orgelvirtuose in England. Doch kaum nach Wien zurückgekehrt, wird er in ein ebenso peinliches wie lächerliches Disziplinarverfahren hineingezogen wegen angeblicher „Belästigung“ einer Schülerin. Das Ganze erweist sich allerdings als Unfug und führt auch nicht zu der befürchteten Entlassung (vom Posten eines Orgel- und Theorielehrers an der Lehrerinnenbildungsanstalt bei St. Anna). Möglicherweise verfolgten den sensiblen Komponisten diese Kontraste zwischen dem Triumph in London und der Hölle in Wien weiter, als es nötig gewesen wäre. Allein, er begann im Oktober mit der Arbeit an der zweiten Symphonie.

Ist ein größerer Gegensatz denkbar, als der zwischen den Anfängen der ersten beiden Symphonien? Dort ein sicheres Pochen und ein fester Marschrhythmus, hier ein tremolierender Klangteppich, auf den eine unruhige, ja gequälte, chromatisch gewundene, keineswegs zielgerichtete Melodie gelegt wird. Ein solcher Anfang macht keinen ‚Effekt‘. Aber die später so typische Bruckner‘sche Spannung zu Beginn einer Symphonie wird erstmals hörbar. Der scheinbar so zahme Anfang erweist sich als äußerst folgenreich. Und Bruckners neuartige, dynamische Formvorstellung zeichnet sich bereits deutlich ab: Die Thematik ist jetzt ausdrücklich nur noch der Anlass, nicht mehr die Absicht des Musizierens. Die Substanz der Musik – ihr ‚Inhalt‘ – geht nicht mehr in der motivisch-thematischen Arbeit auf, sondern ereignet sich in den körperlich-gestischen Steigerungsverläufen, deren erdröhnende Zielpunkte in der zweiten Symphonie seltsam abgeblendet erscheinen.
Auch das charakteristische Abbrechen von Entwicklungen, wenn es die Innenspannung gerade gebietet, tritt hier zum ersten Mal auf: So bricht etwa der erste thematische Komplex im ersten Satz an unvermuteter Stelle ab, weil der Faden später – in der Durchführung nämlich – mühelos wiederaufgenommen werden kann. Und erst dort zeigt übrigens das verwendete Material, was in ihm steckt. Die abgestufte Folge thematisch verschieden konturierter ‚Blöcke‘ entwirft Bruckner in der zweiten Symphonie insofern paradigmatisch, als er sie durch Generalpausen voneinander absetzt, was dem Werk alsbald den Beinamen ‚Pausen-Symphonie‘ eintrug. Ein für Bruckner wesentlicher Zug macht sich bemerkbar: die epische Breite. Von daher wird auch die erstmalig und konsequent angewandte thematische, obgleich eher äußerliche Verklammerung der Ecksätze verständlich (die im Übrigen nicht in allen Bruckner-Symphonien voll überzeugt). Sie ist eine ‚architektonische‘ Abstützung des ‚logischen‘, epischen Flusses. Und das scharf rhythmisierte Trompetenmotiv, das am Ende des Hauptthemas, vor dessen nachdrücklicher erster Kadenz wie von außen kommend, fremd und unerbittlich hineinschallt, ist das Urbild des Bruckner‘schen Komponierens in ‚Schichten‘, das weit in die Zukunft weist.

Ebenfalls zum ersten Mal intoniert Bruckner – im Andante – auch den Choraltonfall, der – wie Polka, Ländler und Tanzcharaktere – zu seiner ‚katholischen‘ musikalischen Welt gehört. Bedenkt man, dass während der Arbeit an der zweiten Symphonie Bruckners große dritte Messe in f-moll in Wien zur Uraufführung gelangte (16. Juni 1872), dann sind die beiden auffälligen Zitate aus dem Benedictus (im Andante) und dem Kyrie jener Messe (im Finale) wohl kaum erstaunlich. Verblüffend ist dagegen der ‚mystische‘ Tonfall, in dem das zweite Thema des Andante erklingt: fremdartig (Tritonusspannung) und zugleich sehr eindringlich, wie von einer Magnetnadel an den Punkt des unmittelbar Einleuchtenden gezogen. Eine unerhörte Stelle ist dann die letzte Wiederkehr des Hauptthemas: Wie von Zauberhand geführt, wird, für nur vier Takte, das Adagio der neunten Symphonie antizipiert, jene Stelle dort nach der knirschenden Dissonanz vor Buchstabe R, die wie „Luft von anderem Planeten“ klingt, schwerelos und fast schon jenseits der Materie. Die angeblich so „zahme zweite Symphonie erweist sich am Ende als komplexes Terrain, von dem aus Strahlen auf den reifen Symphoniker fallen, die man zunächst gar nicht vermutet.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.