Alfredo Casella

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t1 Konzertführer
Alfredo Casella
Alfredo Casella

Turin, 25. Juli 1883 – Rom, 5. März 1947
Frühzeitig wurde seine pianistische Begabung erkannt und gefördert. Von 1896 bis 1902 studierte er am Pariser Conservatoire, erhielt 1915 eine Professur für Komposition am Liceo (später Conservatorio) di Santa Cecilia in Rom und entfaltete ab 1923 eine weitgespannte Tätigkeit als Pianist, Dirigent, Essayist und Organisator. Zusammen mit anderen Komponisten seiner Generation (unter anderen Gian Francesco Malipiero) setzte er sich für die Verbreitung der zeitgenössischen und Pflege der alten italienischen Musik ein.

In Casellas Schaffen lassen sich drei Phasen unterscheiden: Die erste, die von etwa 1901 bis 1913 reicht, ist geprägt durch eine intensive Auseinandersetzung mit den verschiedenen Strömungen der Spätromantik und des Impressionismus. Verraten seine frühen Klavierstücke den Einfluss seines Lehrers Fauré, so sind die beiden Symphonien Nr.1 b-moll op. 5 und Nr. 2 c-moll op. 12 dem Geist Gustav Mahlers verpflichtet. Als Casellas bedeutendstes Orchesterwerk dieser Periode gilt die Rhapsodie ltalia op. 11, zu der er durch das Vorbild von Ravel und Albéniz inspiriert wurde. Seine Intentionen zielen darauf ab, ein farbiges Gemälde des sizilianischen wie neapolitanischen Lebens zu entwerfen, ohne dass jedoch ein Programm im engeren Sinne zugrunde gelegt wird. Die musikalische Substanz geben einige süditalienische Canzonen ab, unter anderem das Funiculì-Funiculilà von Luigi Denza.

Ausgelöst durch die Uraufführung von Strawinskys Sacre du printemps vollzieht sich eine abrupte Wende in Casellas musikalischem Denken: Die neuen Leitbilder sind nun Strawinsky, Schönberg und Bartók, erkennbar in der Elegia eroica (op. 29, 1916), einem überaus expressiven Werk, das die tragischen Ereignisse des Ersten Weltkriegs reflektiert sowie in A notte alta (op. 30, 1917), einer Komposition, die zwischen Postimpressionismus und Polytonalität steht.

Gegen 1920 erfolgt eine stilistische Neuorientierung, die sich in einer Akzentuierung von Linearität, diatonischer, gleichwohl mit Reizdissonanzen versehener Harmonik und motorischer Rhythmik äußert. Bewusst werden Formen und Techniken vergangener Epochen, vor allem des 18. Jahrhunderts, in das eigene Schaffen miteinbezogen (Neoklassizismus). Als paradigmatisch für den ‚terzo stile‘ sind die Partita op. 42 für Klavier und Orchester (1925) sowie das Concerto romano op. 43 für Orgel, Blechbläser, Pauken und Streicher (1926) zu nennen. Mit der Scarlattiana op. 44, einem Divertimento für Klavier und kleines Orchester (1926), verfolgt Casella das Ziel, „eine harmonische Übereinkunft zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert zu erzielen“ (Autobiographie: I segreti della giara). Das fünfsätzige Werk verarbeitet nicht weniger als achtzig Themen aus den 545 Klaviersonaten Domenico Scarlattis und gemahnt in Faktur und Ausdruck an Strawinskys Pulcinella. Sechzehn Jahre später, 1942, nimmt Casella das Verfahren der kompositorischen Aneignung noch einmal auf: seiner Paganiniana op. 65, entstanden zum hundertjährigen Bestehen der Wiener Philharmoniker, liegen einige Capricen sowie bis dato unveröffentlichte Kompositionen des genialen Geigers zugrunde, die Casella selbst in einer privaten Sammlung entdeckt hat, wobei das Ausgangsmaterial eine wesentlich radikalere Umformung erfährt als im Fall der Scarlattiana. Zu den herausragenden Werken dieser dritten Schaffensperiode zählen Notturno und Tarantella op. 54 für Violoncello und Orchester (1934), das Tripelkonzert op. 56 für Klavier, Violine, Violoncello und Orchester (1933), das Violinkonzert op. 58 (1935) sowie das Concerto für Orchester op. 61 (1937). In den vierziger Jahren lassen sich Tendenzen zu einem vierten Stil erkennen, etwa im Concerto op. 69 für Klavier, Pauken, Schlagzeug und Streicher (1943), in dem verschiedentlich Zwölftonkonstellationen auftreten, ohne dass es jedoch zur Ausbildung eines konsequent dodekaphonen Systems gekommen wäre.

Norbert Christen

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.