Alexander Glasunow

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t1 Konzertführer
Alexander Glasunow
Alexander Glasunow

St. Petersburg, 29. Juli (10. August) 1865 – Neuilly, 21. März 1936

Alexander Konstantinowitsch Glasunow galt schon zu seinen Lebzeiten als ‚letzter Klassiker‘ der russischen nationalen Schule und war in anderer Hinsicht ihr erster Klassizist, den man in Stil und Bedeutung gelegentlich mit Johannes Brahms verglich. Einer traditionsreichen Petersburger Verlegerfamilie entstammend, konnte er seine musikalische Begabung früh entfalten und erregte als Sechzehnjähriger – nach anderthalbjährigen Studien bei Nikolaj Rimskij-Korsakow – mit seiner ersten Sinfonie 1882 als ‚Wunderkind‘ Aufsehen: Sie wurde von den führenden Vertretern des russischen Musiklebens – Mili Balakirew, Wladimir Stassow, César Cui und Anatolij Ljadow – als Fortsetzung ihrer eigenen Bestrebungen spontan akzeptiert und zwei Jahre später von Franz Liszt auf das Programm der Jubiläumskonzerte des ‚Allgemeinen Deutschen Musikvereins‘ in Weimar gesetzt. Liszt hat für Glasunow seither immer eine starke Autorität verkörpert, wogegen sein Verhältnis zu Wagner und Debussy distanzierter, zu Richard Strauss bisweilen geradezu feindselig war.
Die Linie dieser Symphonie – ein Romantismus in klassizistisch geglätteten, ausgeglichenen Formen – hat Glasunow in seinen folgenden Symphonien (insgesamt acht, eine neunte gedieh nur bis zu einer später von G. Judin instrumentierten Klavierskizze) ohne einschneidende Veränderungen fortgeführt. Einem Mozart‘schen Schönheitsideal erklärtermaßen verpflichtet, hat er seine Aufgabe kaum in aufwühlenden Neuerungen, sondern mehr in einer Intensivierung der hier entwickelten Gefühlswerte gesehen – Intensivierung auch in einem technisch-handwerklichen Sinn. In diesem Sinn wurde sein Werk als Ausdruck großer Meisterschaft betrachtet; es galt zu seiner Zeit mehr noch denn das Tschaikowskys als maßstabsetzend: etwa für den jungen Strawinsky, nicht ohne von nachfolgenden Generationen kritischer betrachtet zu werden.

Glasunow, der mit Rimskij-Korsakow befreundet war, von ihm gefördert wurde und in mancher Hinsicht zeitlebens im Fahrwasser seiner Anschauungen und Orientierungen blieb, verkörpert die ‚russische nationale Schule‘ nicht in jenem urwüchsigen, von mitteleuropäischen Mustern abstechenden Sinn wie Mussorgsky oder Strawinsky, sondern eher auf jene ‚westlich‘ orientierte Weise wie Tschaikowsky, mit dem er sich befreundete und sogar eine Versöhnung herstellte: Versöhnung der rivalisierenden Petersburger und Moskauer Schulen, von denen die eine der anderen mangelndes Nationalgefühl, die andere der einen handwerklichen Dilettantismus vorwarf. Eben dieser vorgebliche Mangel findet sich im Werk Glasunows (wie auch Rimskij-Korsakows) in einer technischen Perfektionierung geradezu überkompensiert, sodass ein Kritiker wie Wjatscheslaw Karatygin – anlässlich seiner achten Symphonie – das Wesen der Glasunow‘schen Musik geradezu in einer alles durchdringenden Technik erblickte: „...die Außenseite der Glasunow‘schen Musik ist mit allen Eigenschaften ausgestattet, um dem Ohr zu schmeicheln, selbst dem des Liebhabers. Alles bei Glasunow ist so elegant gemacht, alles klingt so hell und saftig, dass sogar allein bezüglich des ‚Ohrenschmauses‘, wie Serow äußerliche Üppigkeit und Pracht bezeichnete, die Achte Symphonie eine herausragende Komposition ist. Aber ihre künstlerische Würdigung kann im Grunde erst dort beginnen, wo man ihren technischen ‚Panzer‘ überwindet, wo es einem gelingt, ins Herzstück der Glasunow‘schen Symphonik einzudringen. Dieses Vordringen ergibt völlig unerwartete Resultate. Vielleicht denken Sie, es eröffnen sich nun unerwartete Tiefen eines ‚pathetischen Inhalts‘...? Nichts von alldem, stattdessen: Technik, Technik und nochmals Technik. Unter der Hülle erstaunlicher Schönheiten und reiner Architektonik – eine Schicht kontrapunktischer Gebilde. Über ihnen die Plastik der thematischen Gestalten. Ein kompaktes Massiv an Technik. Aber – und darin besteht eben die doppelte Überraschung, die sich bei unserer Erkundungsreise ins Innere der Glasunow‘schen Symphonik auftut: sobald wir zum inneren Kern ihrer ‚technischen Inspiration‘ vorstoßen, sobald es uns gelingt, sozusagen von innen her ihre technische Schale zu betrachten, da bemerken wir mit einem Mal, dass dies nicht nur eine Schale, nicht nur eine Hülle ist, sondern von innen her stellt sich dasselbe dar und bildet gewissermaßen den wirklichen Inhalt dieser Musik... Dass der Inhalt dieser Kunst noch und noch von Technik durchdrungen sei, ist eine nicht nur allgemein verbreitete, sondern oft bis ins Extrem vertretene Meinung. Ich bin bereit, mich dieser Position bis zur letzten Konsequenz anzuschließen – unter einer unerlässlichen Bedingung: dass man diese Identität nicht so sehr als Ergebnis einer völligen Durchdringung des Inhalts mit Technik betrachtet als vielmehr die Technik Glasunows selbst als eine Sache von tiefem Inhalt“ (W. Karatygin: Ausgewählte Aufsätze).

Mit solchem Ausmaß allgemeineuropäisch orientierter kompositorischer Technik verstand es Glasunow, eigene Farben und Stimmungen der russischen Musik im Konzert der europäischen Völker einzuordnen, das ihn andererseits nicht unbeeindruckt ließ: Er verarbeitete ungarische, griechische, tscherkessische, spanische, polnische, orientalische, finnische und mittelalterliche Melodien und Motive in seinen Klavierminiaturen und symphonischen Dichtungen ebenso wie russische Volksthemen.

So hat sein von dem legendären Ballettmeister Marius Petipa beauftragtes Ballett Raymonda (1897), das er als einen Höhepunkt seines Schaffens betrachtete, ein mittelalterliches französisches Sujet: Die junge Raymonda, Nichte der französischen Gräfin Sibylla de Doris, ist mit dem Ritter Jean de Brienne verlobt, der aber unter Führung von König Andreas II. von Ungarn ins Feld ziehen muss. In seiner Abwesenheit erscheint Raymonda ein sarazenischer Ritter, Abderachman, zunächst im Traum und später leibhaftig bei einem Fest im Hause Doris, der leidenschaftlich um ihre Liebe wirbt und versucht, sie zu entführen. Vom zurückkehrenden Jean de Brienne wird er im Duell besiegt. Das Ballett endet in einem großen ungarischen Hochzeitsfest.

In diesem dreieinhalbstündigen Bühnenwerk, das auf dem Konzertpodium gewöhnlich in Form der daraus entstandenen Suite op. 57a zu hören ist, begegnet eine Fülle von Tanzmodellen nicht nur russischer oder ungarischer Herkunft, sondern es kommen Mazurken vor, ein Cancan, Wagners Tonfall wird im Schlussbild imitiert, und im Klaviersolo des dritten Aktes glaubt man sogar Anspielungen an Erik Saties Stil des antiemotionalen, im Ausdruck reduzierten ‚Neo-Grec‘ zu hören. Diese Zitate sind Grimassen, aber nicht bösartig, sondern eher von freiwilliger oder unfreiwilliger Komik: Glasunow ist hier auch ein Humorist, auf jeden Fall aber Techniker einer international orientierten, neugierig alles aufgreifenden und im Interesse des Fortschritts ausprobierenden Belle Epoque.

Dieses Interesse kann vergangenheitsbezogen sein: Glasunow dringt gelegentlich dieses Balletts in die französische Musik des 18. Jahrhunderts tiefer ein – in seinen späteren Werken, besonders in der Pariser Emigration seit 1928, dringt er in seinen Präludien und Fugen und seiner Marcel Dupré gewidmeten Orgelfantasie tief in den Stil von Johann Sebastian Bach ein. Seine Studenten am Petersburger Konservatorium, wo er seit 1898 Spezielle Instrumentation lehrte und seit 1905 bis 1928 Direktor war – darunter Prokofjew und Schostakowitsch –, bewunderten nicht zuletzt seinen fundierten historischen Weitblick und seine Beschlagenheit in der mittelalterlichen Musik, von der zum Beispiel sein 1932 entstandenes Saxophonquartett mit Choralmodellen und leittonarmer Harmonik zeugt.

Sein Romantismus entbehrt – abgesehen vielleicht von seiner siebenten Symphonie (1902) -der dämonischen Dimensionen; er ist – im Sinne des ausgehenden 19.Jahrhunderts – eher aufgeklärt und positivistisch, bei aller formalen Strenge, die die Zeitgenossen bewunderten, aus der Perspektive unseres Hörens eher unterhaltsam und problemlos. Aus dieser Perspektive erscheint er eher als liebenswürdiger Miniaturist, und es rücken seine Ballettkompositionen (neben Raymonda, Die Jahreszeiten, 1899; Ruses d'amour, nach Watteau, 1898) wieder in den Vordergrund des Interesses.
Auf dem Konzertpodium behauptet sich als Standardstück des Geigerrepertoires sein 1904 – in Gemeinschaft mit dem Widmungsträger Leopold Auer erarbeitetes – Violinkonzert op. 82 als ein konzentrierter Höhepunkt an romantischem Ausdruck, in dessen Strukturen allenthalben eine latente Dreiteiligkeit verwirklicht ist.

Nicht unbedeutend ist sein kammermusikalisches Werk, das seit früher Jugend einen Teil seines Schaffens ausmachte (und ihm die Protektion des Holzindustriellen und späteren Verlegers Mitrofan Belaieff verschaffte, der – um ihn zu fördern – 1885 in Leipzig jenen bis heute existierenden, speziell russische Musiker publizierenden Verlag gründete). Hier erweist sich Glasunow als jener Verfechter von Polyphonie – und damit Vorreiter der russischen Bach-Adaption –, die auch in seinem pädagogischen Wirken eine bestimmende Rolle spielen sollte; eine Orientierung, mit der er letztendlich entscheidende Weichen für die russische und sowjetische Musik stellte.
Detlef Gojowy

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.