Wozzeck, Drei Bruchstücke für Gesang und Orchester

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t1 Konzertführer
Alban Berg
Wozzeck, Drei Bruchstücke für Gesang und Orchester

Die Fratzen, die der ‚Marsch‘ der drei Orchesterstücke musikalisch heraufbeschwört, nehmen leibhaftige Gestalt an in der Büchner-Oper Wozzeck, in den Peinigern des erniedrigten und beleidigten Soldaten Wozzeck, der aus verzweifelter Eifersucht seine Geliebte ersticht und danach ins Wasser geht. Die sozialkritische Durchschlagskraft der Oper ist bis heute lebendig geblieben. Noch vor der erfolgreichen Berliner Uraufführung, die Erich Kleiber am 14. Dezember 1925 in Berlin dirigierte, regte Hermann Scherchen, der sehr an dem Werk interessiert war, Berg dazu an, Teile der Oper für eine konzertante Aufführung einzurichten und gesondert zu veröffentlichen. Das geschah ziemlich bald: Im August 1923 schickte Berg die drei Bruchstücke an Scherchen, der am 15. Juni 1924 in Frankfurt im Rahmen des Musikfestes des Allgemeinen Deutschen Musikvereins die Uraufführung dieser Auszüge dirigierte. Die Partitur erschien ebenfalls im Druck.

Berg hatte aus der Oper folgende Szenen ausgewählt: ‚Militärmarsch und Wiegenlied der Marie‘ (das ist die Überleitungsmusik von der zweiten zur dritten Szene des ersten Aktes und die Szene selbst in der Stube der Marie bis zum Auftritt Wozzecks), ‚Thema mit Variationen‘ (die ganze erste Szene des dritten Aktes) und den Schluss der Oper, genauer: aus dem dritten Akt den letzten Teil der vierten Szene, vom Ertrinken Wozzecks an (aber ohne Dialog), das symphonische Zwischenspiel (die Verwandlungsmusik) und die Schlussszene. Im Gegensatz zur Oper sind die drei Bruchstücke auf die Person der Marie konzentriert. Das erkannte bereits Bergs Freund und Kollege Anton Webern: „Weißt du, dass diese Bruchstücke zusammen ein einheitliches Ganzes ausmachen? Dass sie ein selbständig geschlossenes Werk für sich bilden? Als mir das bewusstwurde, was war das für ein Moment! Ja, die ganze Tragödie dieser Frau ist damit gegeben. Und wiewohl die zwei Männer gar nicht vorkommen, weiß man alles.“

Der Titel Bruchstücke ist natürlich eine Untertreibung, denn weder handelt es sich um fragmentarische oder gar unfertige Passagen der Oper noch um ‚Nebenwerke‘. Ganz im Gegenteil: Berg machte aus der Not der Auswahl eine Tugend und wählte ganz bewusst bestimmte Stellen und Szenen aus, die charakteristisch sind für die innere Haltung und äußere Atmosphäre des Armeleutestücks. Außerdem sind es sämtlich Adagio-Stücke mit Ausnahme des Militärmarsches, der ja auch paradigmatisch für das Milieu steht, für den Druck, der auf Wozzeck und Marie lastet. Mit Bedacht schuf Berg für die Dramaturgie der Bruchstücke ein Pendant zu dem gar nicht herangezogenen zweiten Akt, der ja den zentralen Konflikt enthält: An seiner Stelle fügte er die Bibelszene der Marie ein, deren innere Zerrissenheit und trostloser Tonfall in einer ähnlich strengen Form (siebentaktiges Thema mit sieben Variationen und abschließender Fuge) abläuft wie der als fünfsätzige Symphonie gearbeitete zweite Akt. Die spezielle Anordnung der drei Bruchstücke hat eigenen Werkcharakter.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.