Violinkonzert (1935)

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t1 Konzertführer
Alban Berg
Violinkonzert (1935)

Mit seinem Violinkonzert, dem ersten zwölftönigen überhaupt, ist es Berg – als einzigem Mitglied der Wiener Schule – gelungen, so etwas wie ein ‚populäres‘ Werk zu schreiben. Doch ist das eine Täuschung. Tatsächlich ist die Partitur zwar eine seiner ‚einfachsten‘, sofern bei Berg diese zweifelhafte Kategorie überhaupt zutrifft, aber an der Schwierigkeit, sie adäquat aufzuführen, zeigt sich deutlich genug, was in ihr steckt: Nachdrücklich bestätigt sie Bergs musikalische Eigenart, die Analyse gleichsam mitzuvollstrecken, und so ist der Orchestersatz keine bloße ‚Begleitung‘, sondern ein vielfach abgestuftes Stimmengewebe, zu dem die Solovioline, als ‚prima inter pares‘, nicht in glänzender Virtuosität, hinzutritt und auch nicht an jeder Stelle die Hauptstimme hat. Dies gilt es zu bedenken, wenn da behauptet wird, das äußerst feingewobene Stück sei einfach zu hören, da es ja auch in für Bergs Verhältnisse sehr schneller Zeit (April bis August 1935) entstanden sei.

Nun war es ja immerhin eine Auftragskomposition, unterbrach ebenso die Arbeit an der Oper Lulu wie sechs Jahre früher der andere Konzertauftrag der Weinarie. Und wie in tragischer Ironie des Schicksals sollte es Bergs letzte vollendete Komposition werden, eine Art Requiem für ihn selber, obwohl das natürlich gar nicht so geplant war, sondern als Requiem für Manon Gropius, die am 22. April 1935 an Kinderlähmung gestorbene Tochter aus Alma Mahlers zweiter Ehe mit dem Architekten Walter Gropius (daher der Untertitel des Werkes: Dem Andenken eines Engels). Den ‚äußeren‘ Auftrag erteilte der Geiger Louis Krasner, der auch die postume Uraufführung in Barcelona am 19. April 1936 spielte. In fieberhafter Eile entwarf Berg die Partitur, da er so schnell wie möglich wieder an die Vollendung der Lulu zurückgehen wollte. Doch dem Violinkonzert haftet das nicht als Makel an. Ganz im Gegenteil: Berg hat seinen Hang zur Stilsynthese nirgends so weit vorangetrieben wie gerade hier. Die Werkidee ist denn auch ebenso klar wie sinnfällig: Es ist der Versuch, das Leben, Sterben und die Verklärung der engelhaft schönen Manon Gropius – die Solovioline ist dabei die ‚dramatis persona‘ – musikalisch darzustellen, freilich nicht abzukonterfeien, wie es ‚Programmmusik‘ täte, bemächtigte sie sich eines solchen ‚Stoffs‘. Es handelt sich nicht um eine Art symphonischer Dichtung im Sinne von Tod und Verklärung eines Richard Strauss, sondern um den höchst originellen Entwurf eines dramatischen Konzerts. Der aristotelischen Dramaturgie folgend enthält das vierteilige, in zwei Sätze gegliederte musikalische Drama Bergs ‚Exposition‘, ‚Peripetie‘, ‚Katastrophe‘ und verklärenden ‚Epilog‘. Die dramatische Exposition, freilich in epischer Haltung, ist der erste zweiteilige Satz, der aus zwei Charakterbildern besteht (Andante und Allegretto), einem melancholischen Vorspiel und einem Scherzo in der Art Mahlers. Als retadierendes Moment fügt Berg in den Scherzo-Ablauf das rührende Zitat einer unschuldigen Kärntner Volksweise ein (Ein Vogerl auf'm Zwetschgenbaum), offenbar eine hintergründige Charakterisierung des jungen Mädchens am Rande des Abgrunds, der sich in der Katastrophe des zweiten Satzes auftut.

Der Tonfall des Scherzos ist so nahe an Mahler wie sonst keine Musik Bergs; es enthält drei Charaktere, ein Ländlerthema, einen mit ‚wienerisch‘ bezeichneten Gestus und eine ‚Rustico‘-Gestalt, ferner zwei Trios, das erste zufahrend, das zweite von blasser Trauer erfüllt, Sehnsucht und Verfallenheit in eins setzend. Diese dramaturgische Werkidee war der eigentliche ‚innere‘ Anlass, zu dem der ‚äußere‘ Auftrag hinzukam. Adorno machte darauf aufmerksam, dass der überaus seltsame Anfang des Werkes, gleichsam ein absichtsloser Beginn vor dem eigentlichen Anfang des ersten Satzes, so klinge, als ob sich der Komponist, da es sich um ein Auftragswerk handelt, gewissermaßen selbst erst „in Stimmung“ bringen müsste, bevor im elften Takt das Hauptthema beginnt. In der Tat: Der Sologeiger fährt zu Beginn zögernd mit dem Bogen über die leeren Saiten, als ob er sich einspielte oder gar das Instrument ausprobierte. Diese Art des musikalischen Realismus setzt sich fort auf der Ebene des verwendeten musikalischen Materials. Die Zwölftonreihe ist nicht nach abstrakten Intervallverhältnissen entworfen, sondern von den leeren Saiten des Soloinstruments her: Abwechselnd mit kleinen und großen Terzen ausgefüllt bilden sie die Eckpfeiler der Reihe, ergänzt von einer viertönigen Ganztonfolge, die Berg als identisch mit dem Anfang des Bach-Chorals ‚Es ist genug‘ aus der Kantate 60 enthüllt, und zwar im zweiten Teil des zweiten Satzes. Dort erscheint der Choral zunächst leibhaftig in Bachs Harmonisierung, dann in Form von Choralvariationen, die den Choral zwölftönig aktualisieren und wie ein Blick hinter den Tod klingen. Vorausgegangen war die Katastrophe in Form einer großen Kadenz für Violine und Orchester (erster Teil des zweiten Satzes). Am Schluss entschwebt die Solovioline in höchste Höhen, und das Konzert endet in dem polytonalen Mischklang aus g-moll und B-dur.

Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.