Fünf Orchesterlieder nach Ansichtskarten-Texten von Peter Altenberg op. 4 (1912)

Zurück
t1 Konzertführer
Alban Berg
Fünf Orchesterlieder nach Ansichtskarten-Texten von Peter Altenberg op. 4 (1912)

Das erste Orchesterwerk Bergs, zwei Jahre nach dem Ende der Lehrzeit bei Schönberg geschrieben, war sogleich ein Skandal, und das nicht erst bei der (Teil-)Uraufführung. Der einstige Lehrer selbst fühlte sich provoziert von der Art, wie der „schüchterne“ Berg mit den aphoristischen Tendenzen, derer sich Schönberg und vor allem Webern in dieser Zeit bedienten, umging. Schon die Wahl der Texte war unorthodox: Der Schönberg-Kreis hielt es mit dem aristokratischen Habitus der Lyrik Georges oder Rilkes, im Falle Weberns auch noch mit dem esoterischen Sprachklang Georg Trakls, aber niemals mit Peter Altenberg. Schönberg stieß sich ja sogar an Bergs Wahl von Büchners gerade erst (nach fast hundert Jahren) uraufgeführtem Dramenfragment Woyzeck zum Opernlibretto mit der Bemerkung, eine Oper habe nichts zu tun mit Offiziersdienern. Und der Stoff der zweiten Oper Bergs nach Wedekinds Lulu-Tragödien war im Schönberg-Kreis noch weniger beliebt. Allein durch seine literarischen Vorlieben stand Berg quer zu Schönberg, denn er vertonte genau das, was dieser verachtete: kritische Literatur. Die Texte des Wiener Bohemiens Peter Altenberg, der eigentlich Richard Engländer hieß und mit Berg befreundet war, stammen aus einem Gedichtband, dem Altenberg den Titel Altes Neues gegeben hat. Darin befinden sich auch die aphoristischen Kommentare zu Ansichtskarten, die Altenbergs unkonventionellen Umgang mit der Sprache zeigen. Es sind halb tiefgründig psychologische, halb lyrisch aperçuhafte, an Nonsens grenzende Aussagen, die Berg bezeichnenderweise sehr beeindruckten, da sie ihm die Möglichkeit eröffneten, musikalisch ganz neuartige Wege zu gehen. Er schrieb die fünf Lieder für Gesang und ein überdimensional besetztes Orchester, das jedoch mit der spätromantischen Klangfülle überhaupt nichts mehr zu tun hat. Es klingt an keiner Stelle massiv. Berg nützt die Möglichkeiten neuer, differenzierter Klangmischungen. Schönberg, der immerhin selbst (am 31. März 1913) die Uraufführung zweier dieser Lieder wagte, war mit Bergs Absichten nicht einverstanden und meinte: „Vor allem scheinen sie“ – die Altenberg-Lieder – „merkwürdig gut und schön instrumentiert zu sein. Einiges ist mir zunächst nicht angenehm: nämlich das etwas zu offenkundige Streben, neue Mittel anzuwenden.“ Dieser Meinung waren wohl auch die Wiener Zuhörer bei der Uraufführung (des zweiten und vierten Lieds), denn nur eines der beiden ausgewählten Lieder konnte überhaupt vernommen werden, das andere ging im allgemeinen Tumult unter. Schuld daran trug gewiss auch der schlechte Ruf der Texte und der Person Altenbergs, aber auch der experimentelle ‚Ton‘, den Berg hier musikalisch anschlägt, vor allem die extreme Kürze. Nur das nicht aufgeführte letzte Lied ist umfangreicher, dafür aber eine strenge Form (Passacaglia). Abohrfeigungen und Polizeieinsatz, gerichtliche Nachspiele und das Verschwinden der Partitur in der Schublade Bergs waren die Folge der missglückten Uraufführung.

Berg hat sein erstes Orchesterwerk selbst nie mehr zu Gehör bekommen; erst lange nach Bergs Tod, im Jahre 1953, holte Jascha Horenstein die noch ungedruckte Partitur wieder hervor und dirigierte die vollständige Uraufführung aller fünf Lieder. Die scheinbare Nichtigkeit der Texte Altenbergs korrespondiert aufs genaueste mit der aus dem Nichts kommenden und ebenso wieder verschwindenden Musik Bergs, die so weit in die Zukunft schaut, dass es eben selbst Schönberg nicht geheuer war. Altenbergs ‚niedere‘ Literatur reizte aber gerade Bergs musikalische Phantasie: So genügte im dritten Lied bereits der Textanfang „Über die Grenzen des All blicktest du sinnend hinaus“, um in Berg den ketzerischen Gedanken hervorzurufen, wie es klänge, wenn er dazu im Orchester einen vollständigen chromatischen Cluster (!) brächte, der zu Beginn direkt eintritt (Bläser) und am Schluss, bei der Textwiederholung des Anfangs, sukzessive (in den hohen Flageoletts der Streicher) aufgebaut wird, und das rund fünfzig Jahre vor György Ligetis diesbezüglichen Klangkompositionen. Der angeblich ‚letzte Romantiker‘ Berg verfügte über eine erstaunliche prophetische Gabe. Die aphoristische Kürze der beiden für die Uraufführung ausgewählten Lieder bedeutet für den Hörer eine Dimensionierung: Die Assoziationen dürfen im Kopf weiterklingen. Im fünften Lied entwirft Berg dann Schönbergs Zwölftontechnik im Rohzustand, unterwirft sich außerdem der Passacaglia Form, deren Aufgabe es hier ist, das in sich Kreisende des Altenbergsehen Textes („Hier ist Friede“) zum Ausdruck zu bringen und dazu den Naturfrieden außerhalb der Menschen, der in dem letzten Bild vom leise in Wasserlachen tropfenden Schnee mündet. Berg mochte sich mit der hiermit ausgesprochenen Einsamkeit besonders identifiziert haben.

Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.