Zoltán Kodály

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t1 Konzertführer
Zoltán Kodály
Zoltán Kodály

Kecskemét, 16. Dezember 1882 – Budapest, 6. März 1967

Entscheidende Bedeutung für die ungarische Musik und für deren hohe Einschätzung innerhalb des jüngeren Repertoires haben die Werke Zoltán Kodálys erlangt. Die Eltern, Frigyes Kodály und Paulina Jaloveczky, hatten 1879 geheiratet und waren beide musisch veranlagt. Der Vater, der als Bediensteter der Staatsbahnen als Stationsvorstand für den Lebensunterhalt sorgte, wurde kurz nach der Geburt des Sohnes Zoltán nach Szob, dann nach Galánta und später nach Nagyszomat (Tyrnau, dem heutigen Trnava in der Slowakei) versetzt. In Galánta verlebte der kleine Kodály „die sieben schönsten Jahre seiner Kindheit“, wie im Vorwort zu den Tänzen aus Galánta aus dem Jahre 1934 zu lesen ist. In Tyrnau besuchte er das Gymnasium und lernte – praktisch als Autodidakt – Klavier, Geige, Bratsche und Cello, wodurch er sich im Rahmen der häuslichen Kammermusik und im Schulorchester betätigen konnte. Überliefert ist jedoch, dass Zoltán Kodály sich bereits in diesen Jahren mit Eifer dem Komponieren zuwandte. Seine Vorbilder: Haydn und Mozart.

Die Aufführung seiner Ouvertüre in d-moll fand mit dem Orchester des Gymnasiums im Februar 1898 statt. Der Komponist spielte in der Cellogruppe mit und bediente die Trommel. Sprachbegabt und allem Geistigen aufgeschlossen, studierte Kodály seinen Eltern zuliebe nach dem Abitur in Budapest an der philosophischen Fakultät, hegte indes nie Zweifel daran, dass er sich ‚hauptberuflich‘ musikalischen Fragen widmen würde. Bei Hans Koessler studierte Kodály Komposition, bei Viktor Herzfeld Musikgeschichte und -theorie. Unter ihrem Einfluss, aber auf Eigenständigkeit der Urteilsfindung bedacht, dürfte Kodály in diesen Jahren mit der Problematik des ungarischen Elements in der europäischen Kunstmusik konfrontiert worden sein. Während jedoch Koessler die Integration des Ungarischen in die ‚höhere Musik‘ als behutsam angewandte koloristischen Kunstkniff – wie etwa im Finale des Klavierquartetts in g-moll von Johannes Brahms – akzeptierte, befasste sich sein Schüler mehr und mehr mit den Wurzeln der ungarischen Volksmusik und mit der Vision einer neuen, das Althergebrachte ebenso wie aktuelle Strömungen verarbeitenden nationalen Musiksprache, vergleichbar mit anerkannten Ausdrucksformen, wie sie sich unter unterschiedlichsten musikhistorischen und kompositionspsychologischen Bedingungen in Deutschland, Italien oder Frankreich herausgebildet hatten.

Die Bekanntschaft und Freundschaft mit Béla Bartók bedeutet für Kodály Anregung und Bestätigung zugleich. 1905 beginnt er Volkslieder zu sammeln und das schier unübersehbare Material zu systematisieren. Sein Dissertationsthema behandelte folgerichtig den Strophenbau im ungarischen Volkslied. Mehr als 3500 Volkslieder trägt der musikpädagogisch engagierte und in vielen didaktischen Grundsatzentscheidungen immer noch vorbildliche Wissenschaftler zusammen, der ab 1907 als Lehrer an der Budapester Musikhochschule wirkt und als Komponist einen stilistisch vorsichtigeren, traditionsbewussteren Weg beschreitet als Béla Bartók. Beiden geben die volkstümlichen Materialien Anlass, sich auf die Werte bäuerlicher Kunst zu besinnen, um – in Distanz zu Brahms, dem auch Bartóks frühe Stücke verpflichtet sind – eine vertretbare, zukunftsträchtige Form der rhythmischen und klanglichen Definition zu finden.

Neben der Volksmusik haben zahlreiche andere musikalische Elemente das Schaffen Kodálys beeinflusst, geprägt und gefärbt: mittelalterliche Einstimmigkeit, polyphone Vernetzung, wie sie für Palestrina charakteristisch ist, barocke Auszierung des Wortgehalts und harmonische Kühnheiten der französischen Impressionisten, von denen Claude Debussy bei Kodály den größten Eindruck hinterlassen hat. 1907 hatte der Komponist Paris besucht und dort auch Werke von Debussy kennengelernt. Kodálys Verdienst ist es jedoch nicht, sozusagen die akustische Scholle seiner Heimat durchpflügt und neu bestellt zu haben, um die Früchte dieser Arbeit mit den Anleihen aus der abendländischen Musikgeschichte zu einem folkloristisch durchsetzten Globaleklektizismus zu veredeln. In seinen großen und richtunggebenden Werken ist es ihm gelungen, eine dem Stoff angemessene Synthese zu finden, der es trotz bildungsbürgerlichem Ballast und Kunstfertigkeit in Satz und Harmonie nicht an Ursprünglichkeit, ja Wucht der Mitteilung mangelt – Qualitäten, die heute nicht mehr altväterlich mit ‚Größe‘ umschrieben werden, aber doch dem aufgeschlossenen Hörer eine Ahnung von den Kräften elementaren musikalischen Ausdrucks vermitteln. Insofern steht heute Zoltán Kodály für künstlerischen Nationalismus ohne begrenzten Echtheitsfanatismus – ein Klassiker der Moderne, der mit dem Ungarischen konfrontiert, nicht aber mit völkischer Betriebsamkeit das Bodenständige gegen das Auswärtige ausspielt.

Kodálys ehrgeizigstes und zweifellos auch substanzreichstes Werk ist der Psalmus Hungaricus für Tenorsolo, Chor und Orchester, dessen Uraufführung anlässlich der Fünfzig-Jahr-Feier der Städteverbindung Buda und Pest im Jahre 1923 eine längere Phase des kompositorischen Stillhaltens beendete. Kodály war sich bewusstgeworden, dass im Anschluss an die großen weltpolitischen Erschütterungen – Weltkrieg, Revolution (und Gegenrevolution) – altes, aber in der Botschaft und Essenz zeitloses Textmaterial die beste Grundlage für eine aufrüttelnde, zugleich aber auch kontemplative Musik sein würde. Hier kam ihm die freie ungarische Übersetzung des 25. Psalms von Mihály Vég (16. Jahrhundert) entgegen: Leid und Schicksal in alttestamentarischer Sprache vor dem historischen Hintergrund der Türkenherrschaft, unter deren Auswirkungen auch dieser dichtende Prediger zu leiden hatte.

Das Werk ist zweiteilig und besteht aus einer ‚Klage‘, deren Höhepunkt der (unbegleitete) Fluch des Dichters ist, und aus einem Gebet, in dessen dramaturgischem Zentrum ein Hymnus des Chors mit Begleitung des Orchesters für formale Ausgewogenheit und emotionale Erhitzung sorgt. Kodály greift am Ende des weitgespannten lyrisch-dramatischen Spannungsbogens den Tonfall verhaltenen Psalmodierens, wie er in der Introduktion angeschlagen wird, wieder auf. Eine riskante Schlusslösung, für die sich ein weniger selbstsicherer Autor wohl kaum entschlossen hätte. In diesem Zusammenhang aber trägt die dynamische Zurücknahme zur Suggestivwirkung des Werkes bei, dessen besondere Stellung im Musikschaffen nicht nur des 20. Jahrhunderts auch von jenen Musikologen und Musiksoziologen anerkannt wird, die sich bei ihren Recherchen mit parteilichem Eifer auf die Versuchsanordnungen in den Kompositionslabors der Neuen Wiener Schule konzentriert haben.

Im Konzertrepertoire der siebziger und achtziger Jahre konnten sich nicht nur die beliebtesten Kodály-Werke auf Grund ihrer attraktiven Mischung aus Gefühlswärme, Gedankenschärfe und ‚musikantischem‘ Schwung behaupten, sondern – nicht zuletzt mit publizistischer Rückendeckung durch die Schallplatte – auch einige bisher weniger bekannte oder unterschätzte Stücke. Zu den bewährten, gewissermaßen unverwüstlichen Werkreihen sind die im Volkstümlichen wurzelnden Marosszéker Tänze (1930) und die Tänze aus Galánta (1933) zu rechnen. Beide opera liegen auch in Klavierfassungen vor, haben sich jedoch in der Konzertpraxis in den prächtig instrumentierten, intelligent mit slawischen Klischees operierenden (und ihnen auch opponierenden) Orchesterfassungen durchgesetzt. In der ersten der beiden Tanzdichtungen in Rondoform mit dankbaren quasi-solistischen Aufgabenstellungen hat Kodály siebenbürgische Volkstänze verknüpft, während in den Tänzen aus Galánta die Musik der Zigeuner im 18. Jahrhundert aufgearbeitet wird.

Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg vollendete Kodály die Variationen über das ungarische Volkslied Der Pfau und das Concerto für Orchester. Um sich ein persönliches Urteil über Kodálys Zielsetzungen und satztechnisches Vermögen zu bilden, empfiehlt es sich, diese im Vergleich zu den erwähnten Tanzserien unbequemeren Stücke in jede Analyse miteinzubeziehen. In den Pfau-Variationen, deren thematische Kernsubstanz auf die älteste
‚Schicht‘ der fünfstufig eingeteilten ungarischen Volksmusik zurückgeht, versucht Kodály die mannigfaltigen Verarbeitungsmöglichkeiten der Melodik mit den Mitteln des fortgeschrittenen Orchesters unter Beweis zu stellen. Eine Rückwendung anderen Typus beschwert das Concerto, dessen dreisätzige Concerti grosso-Anlage die Inspiration durch barocke Formenpraxis nicht verleugnet. Hier jedoch tritt der volkstümliche Aspekt in den Hintergrund – eine für Kodály seltene Abstinenz. Im Anschluss an die sehr beifällig aufgenommenen Erstaufführungen des Psalmus Hungaricus in Budapest und Zürich wurde 1926 in Budapest das Singspiel Háry János uraufgeführt. Ein Novum war es, ungarische Volkslieder – bald kantig und schlicht, bald aufwendig instrumentiert – im Opernhaus vorzutragen. Das Stück mit einem auf skurrile Weise Märchen, Fiktion und Wahrheit verwebenden Veteran der napoleonischen Kriege als Hauptdarsteller, fand beim Publikum großen Anklang, sodass es fast als logisch erscheinen muss, dass Kodály eine knapp fünfundzwanzig Minuten dauernde Suite für großes Orchester (mit Glockenspiel, Celesta, Klavier und Zymbal) anfertigte, die in grellen und zarten Valeurs die wahren und erträumten Begebenheiten zusammenfasst.

Nicht durchsetzen konnte sich Kodálys Symphonie in C-dur aus dem Jahre 1961. Es handelte sich, sechs Jahre vor dem Tod des mittlerweile weltweit gerühmten und für das ungarische Ausbildungssystem (samt Früherkennung von musikalischen Begabungen) wortführenden Meister, um den großangelegten Versuch, klassische Tradition und volkstümliches Melodiengut noch einmal in einen symphonischen Rahmen zu zwingen. Die drei inhaltlich zum Teil verwandten Sätze belegen ein letztes Mal, wie unbeirrt Kodály an seinen ästhetischen Grundsätzen festgehalten hat, auch wenn sich diese Überzeugungen an Hand der früheren Werke leichter nachweisen und körperlicher nachfühlen lassen.
Peter Cossé

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.