Opernouvertüren (Mozart)

Zurück
t1 Konzertführer
Wolfgang Amadeus Mozart
Opernouvertüren (Mozart)

Es entspricht ihrer musikhistorischen Bedeutung, dass sich alle Opernouvertüren Mozarts aus der Wiener Zeit auch im Konzertsaal etabliert haben, zählen sie doch zu den bedeutendsten Schöpfungen in dieser Gattung überhaupt. Beginnend mit der Ouvertüre zur opera seria ldomeneo im Jahre 1781, in der er sich endgültig vom erstarrten Schema der italienischen sinfonia loslöste, verwirklichte Mozart in allen nachfolgenden Ouvertüren in exemplarischer Weise die von der Musiktheorie (Mattheson, Quantz, Scheibe) schon lange erhobene Forderung nach einer inhaltlich auf die Oper bezogenen Ouvertüre. Gleichzeitig folgte er auch den Reformideen GwcKS, der ja bereits vor ihm die alten Typen der französischen und italienischen Ouvertüre zugunsten einer neuen einsätzigen Form (mit langsamer Einleitung) aufgegeben hatte. Ihre Bedeutung erklärt sich freilich nicht allein aus der Nähe zu den Reformbestrebungen der Zeit, sondern aus ihrer musikalischen wie geistigen Eigenständigkeit, ihrer unverwechselbaren Individualität. Es sind die einzigen Ouvertüren, die das Attribut ‚klassisch‘ verdienen, denn in ihnen sind die widerstrebenden Tendenzen nach formaler Autonomie und nach inhaltlicher Beziehung zur Handlung auf einer höheren Ebene aufgehoben, dialektisch zur Einheit gebracht. Im Unterschied zur späteren Potpourriouvertüre, die inhaltlich konkretisierend durch vorweggenommene Zitate die wichtigsten Themen der Oper musikalisch zusammenfasst, realisiert Mozart eine autonome, genuin instrumentale Komposition mit eigener Thematik und trifft so den geistigen Gehalt, die Aussage, den Charakter der nachfolgenden Oper. Statt musikalischer Ähnlichkeiten gibt es eine geistige Beziehung zwischen Ouvertüre und Oper. Die Ouvertüre gibt nicht den dramatischen Verlauf wieder, sondern sie erfasst das Wesen der Oper.

Bereits in der 1781 für München komponierten Ouvertüre zur opera seria ldomeneo spürt man den ungeheuren Druck, den Gestaltungswillen, den brennenden Wunsch nach freier künstlerischer Betätigung, der von nun an alle Ouvertürenkompositionen Mozarts von innen durchglüht und ihnen die Fesseln des Unterhaltsam-Beliebigen abstreift. Nur die ersten Takte wahren noch die Spielregel einer typischen seria-Eröffnung. Dann bricht die jahrelang zurückgehaltene musikalische Energie explosionsartig aus ihm hervor und entfacht einen Seelensturm stärkster Gefühle. Zugleich ist es ein Orchesterstück von höchster virtuoser Bravour, geschrieben für eines der besten Orchester der Welt (das Hoforchester Karl Theodors).

Über die Ouvertüre zu seinem im selben Jahr komponierten, aber erst 1782 in Wien aufgeführten deutschen Singspiel Die Entführung aus dem Serail schreibt Mozart an seinen Vater: „Von der ouverture haben sie nichts als 14Täckt. – die ist ganz kurz – wechselt immer mit forte und piano ab; wobey beym forte allzeit die türkische Musick einfällt... und ich glaube man wird dabey nicht schlafen können, und sollte man eine ganze Nacht durch nichts geschlafen haben.“ Besonders aufregend ist der (vom barocken Concerte inspirierte) äußerst effektvoll gesetzte ständige Wechsel von leisem ‚europäischen‘ und lautem ‚türkischen‘ Instrumentarium im Presto-Teil, der vibrierende Sehnsucht, das Zittern der Seele, mit der damals in Wien beliebten türkischen Militärmusik konfrontiert und so einen ironisch-heiteren musikalischen Nachtrag zu der in Wien schon seit geraumer Zeit herrschenden Türkenmode liefert. Der langsame Andante-Teil ist die pure Vorwegnahme der ersten Arie des Beimonte im düsteren c-moll, das seine Ungewissheit ausdrückt, und dient der direkten musikalischen Vorbereitung der ersten Opernszene.

Eine weitere brennspiegelartige Verdichtung des Begriffs Charakterouvertüre gelingt Mozart vier Jahre später im knapp 300 Takte langen, aber nur vier Minuten dauernden rasanten Vorspiel zu seiner comedia per musica Le Nozze di Figaro, in der er erstmals einen politisch aktuellen und brisanten Stoff der Gegenwart vertont. Man hat immer wieder behauptet, dass Mozart in seiner Oper dem aufrührerischen Theaterstück Beaumarchais ' politisch ‚die Zähne ausgebrochen‘ habe: abgesehen davon, dass dieser Befund unrichtig ist und die ästhetische Eigenart des Musiktheaters verkennt, beweist bereits die Figaro-Ouvertüre musikalisch zwingend das Gegenteil: Wenn Mozart ein ausgesprochen politisches Stück Musik komponiert hat, dann ist es die Figaro-Ouvertüre. Hier gibt es kein Verweilen, kein erstes und zweites Thema, keine Nebengedanken und quadratischen Formprinzipien. Alles, aber auch alles wird mitgerissen und fortgespült vom gefährlichen Strudel der Ereignisse, die den rasanten Pulsschlag dieses tollen Tages bestimmen und unaufhaltsam ihr Ziel ansteuern. Da sind gesellschaftliche Kräfte am Werk, Massen, die plötzlich alle von diesem heiteren D-dur-Sturm erfasst werden. Hier werden alte Ordnungen, alte Anschauungen und Denkweisen gründlich weggefegt, aber nicht nur politisch, als Vorahnung des Sturms auf die Bastille, sondern im Menschen selbst, in seiner Seele, seinem Lebensgefühl. Nirgends anders ist dieser reinigende Sturmwind, diese neue Dynamik der Freiheit, dieses Schrittes nach vorn, gebündelter in Musik gesetzt worden.

Knapp anderthalb Jahre nach dem Figaro vollendet Mozart das dramma giocoso Don Giovanni für Prag. Die Ouvertüre, die Mozart buchstäblich in letzter Minute, am Tag der Generalprobe, zu Papier bringt, gibt vorab erneut die geistige Essenz der Oper wieder. Hier bestimmt der Gegensatz, der Antagonismus zweier elementarer Kräfte, bis zum letzten Takt den Gang der Ereignisse und findet keine Lösung. Die widerstrebenden Prinzipien von Lebenstrieb und Tod, von Freiheit und Ordnung, von Degen und Stein bestimmen auch die zweiteilige Gestalt der Ouvertüre. Und gleichsam wie ein über dem Ganzen lastendes tragisches Fatum nimmt Mozart im langsamen Andante-Teil der Ouvertüre die entscheidende Todesszene des Titelhelden vom Ende der Oper musikalisch vorweg. So ergibt sich eine seltsame Umkehrung von Ursache und Wirkung, eine kritische Umpolung der im Stück vertretenen Moral: Was sich am Ende der Oper als sich schließender Kreis von gesellschaftlicher Moral und Ordnungsvorstellung zu erkennen gibt – natürlich gefolgt von einer ‚heiteren‘ scena ultima, in der die Gemeinschaft, die Ästhetik der Komödie befolgend, ihren Triumph über den frevelnden einzelnen feiert –, was also in der Oper als moralisch legitimierte Konsequenz und Folge der Handlungen des Titelhelden gezeigt wird, erscheint in der Ouvertüre, da es ja hier am Anfang steht, als Quelle und Ursache seines Lebenstriebs. In der Ouvertüre mündet der tragisch umschattete langsame Teil in den vor Lebenslust überquellenden pulsierenden Allegro-Teil, er bringt ihn erst hervor, und so wird klar, dass Giovanni nicht nur gerichtet wird von der Gesellschaft, sondern dass er auch ein Produkt ist dieser starren Ordnung, dass sein Lustprinzip ein Resultat ist der starren christlichen Moral.

Die Ouvertüre zu Mozarts letzter opera buffa Cosi fan tutte von 1790, in Mozarts bevorzugter Ouvertüren-Tonart C-dur, verfügt, ihrem ‚heiteren‘ Sujet gemäß, über ähnlich motorische Antriebskräfte wie die Figaro-Ouvertüre. In ihrem Charakter ist sie aber völlig verschieden. Denn aller Presto-Elan und alle Buffa-Vitalität dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Ouvertüre gleichsam „auf der Stelle“ tritt, nicht vom Fleck kommt, sich karussellartig im Kreis dreht und daher – wie das Stück – keine rechte Entwicklung durchmacht, die auf ein Ziel, ein wirkliches Erfahrungsergebnis hinausliefe. Hier wird nicht eine Geschichte erzählt, eine dramatische Handlung vorgeführt, sondern eine Parabel, ein Gleichnis gezeigt, von der Unzulänglichkeit menschlichen Empfindens und Handelns. Die Ouvertüre nimmt den Charakter einer Gleichung an, eines musikalischen Schwebezustands, und wenn Mozart nicht irgendwann das sentenzenhafte Cosi fan tutte-Motto des Anfangs in die ständig sich drehende Bewegung einstreuen würde, würde sie vermutlich weiter in sich fortkreisen, ohne Ende. Lüge und Wahrheit, Ernst und Spiel, Vernunft und Liebe, alles hält sich in der Kreisbewegung die Waage: Es gibt keinen Abschluss, keine abschließende Erkenntnis.

Die Ouvertüre zur opera seria La Clemenza di Tito, die Mozart Anfang 1791 unter enormem Zeitdruck vollendet, zählt, obwohl von der Mozart-Literatur die ganze Zeit über als weniger bedeutend eingestuft, zu den beredtesten und schönsten Zeugnissen seiner Ouvertürenkunst. Auch sie ist eine echte Mozartsche Charakterouvertüre von unverwechselbarer Individualität. Natürlich hat Mozart sie in Instrumentation, Tonartenwahl (erneut C-dur!) und in der musikalischen Gesamthaltung ganz auf den äußeren Rahmen einer Festoper abgestimmt (sie wurde ja zur Krönung Leopolds II. zum König von Böhmen in Auftrag gegeben), zudem folgt sie in den ersten Takten der Konvention feierlicher seria-Eröffnungen: das ist vorgeschriebene Etikette, der schon die Idomeneo-Ouvertüre folgen musste. Doch was passiert gleich darauf, vorn achten Takt an, und schlägt uns bis zum Schluss in seinen Bann?! Wir erleben, völlig unvorbereitet, quasi als späten Nachtrag zu einer Gattung, für die Mozart seit über drei Jahren nichts mehr komponiert hatte, eine komplett ausgearbeitete kleine Symphonie von höchstem musikalischen Rang, eine einsätzige Miniatur-Symphonie, bei der Mozart auf denkbar knappstem Raum ein letztes Mal seinen symphonischen Gestaltungswillen gebündelt entfacht – als habe er geahnt, dass es die letzte Gelegenheit sein würde. Und wer genau hinhört, wird in dieser noch einmal zusammenfassenden Ouvertüre Reminiszenzen an frühere Ouvertüren Mozarts finden! Die beiden ersten Takte sind – als sei es vorsätzliche Irritation – identisch mit dem Beginn der Cosi fan tutte-Ouvertüre. Dann folgen einige seria-typische Fanfarentakte, die dem Anfang der Idomeneo-Ouvertüre sehr ähnlich sind. Mittendrin gibt es dann Anklänge an die ‚türkischen‘ Forte-Einwürfe in der Entführungs-Ouvertüre, und die lakonische Unisonoüberleitung zur Durchführung erinnert an den Beginn des Figaro-Vorspiels. Das mögen zufällige Verwandtschaften sein, mag man da einwenden, die Ähnlichkeit von Floskeln, die das Grundrepertoire der Wiener Klassik bilden. Keinesfalls zufällig hingegen ist die Geistesverwandtschaft der Titus-Ouvertüre zum Kopfsatz der Jupiter-Symphonie. Weit über die Tonartbeziehung hinaus geht die Themenverwandtschaft: Beide Kopfthemen vereinigen in sich den Gegensatz einer Piano- und Forte-Wendung; merkwürdig ähnlich ist auch der harmonische Plan beider Durchführungen, die vom lakonisch angesteuerten Bereich Es-dur aus den gesamten Horizont des Mozartschen Tonartenkreises durchmessen bis zur weit entfernten Tonart E-dur, um dann zur Mitte, nach C-dur, zurückzupendeln. Und durch welche Abgründe des Seelischen muss auch in der Titus-Ouvertüre die harmlose Staccato-Figur hindurch, bis sie zur ursprünglichen Dominante zurückfindet! Die Haltung der Titus-Ouvertüre zur Oper entspricht genau Mozarts Haltung zu den Figuren der Handlung in jener späten Phase seines Lebens. Es ist die heitere Kälte, die himmlische Distanz eines Genies, das Hass und Liebe bereits überwunden hat. Die wirkliche Gnade.

Die Ouvertüre zur Zauberflöte, die Mozart wenige Monate vor seinem Tod komponierte, ist vielleicht die reifste, tiefsinnigste Ausformung seiner Ouvertüren-Konzeption. In ihrer unentschiedenen Haltung, einer seltsamen Mischung von Strenge, Verspieltheit, Trauer und festlichem Glanz, ist sie nicht weniger geheimnisvoll und doppelbödig wie die nachfolgende Oper selbst. Und da es in dieser Oper um eines der zentralen Probleme der Geschichte geht, nämlich die Entzauberung der alten Welt durch die Aufklärung und die kritische Durchleuchtung des neuen Menschenbildes, wird in der Ouvertüre, die ja auch diesmal die geistige Basis bereitstellt, tatsächlich zunächst die Welt erschaffen – gleich dem Schöpfungsakt, in der Reihenfolge Gestirne – Natur – Mensch. Man kann diese Vorgänge im Detail nachweisen – wie etwa die drei Dreiklänge des Anfangs, die den Schöpfungsakt symbolisieren, in der langsamen Einleitung zu einem dynamischen Dreiklangsmotiv weiterverarbeitet werden, zu leben, aufzukeimen beginnen, und nur in wenigen Takten die ganze Naturgeschichte durchlaufen, wie dann plötzlich im schnellen Teil endlich der Mensch als selbstbewusstes, tätiges Gattungswesen (Fuge!) in Erscheinung tritt und gleich zu agieren beginnt und später in der Durchführung auch in Widerspruch gerät, Schmerz und Trauer empfindet – doch die Musik Mozarts stellt diese ungeheuerlichen Vorgänge viel eindringlicher und überzeugender dar, als Worte es je beschreiben könnten. Mozart-Forscher Ernst Lert hat diese Vorgänge bereits vor einem halben Jahrhundert anschaulich kommentiert. Er zitierte eine Tagebuchnotiz Franz Grillparzers aus dem Jahre 1809, in der dieser die Komponisten seiner Zeit mit den Schöpfungstagen verglichen hatte: „Das Chaos – Beethoven, es entstehen Berge – Joseph Haydn, der Mensch – Mozart“, hatte Grillparzer unter anderem geschrieben, und Lert fügte Folgendes hinzu: „Und siehe, in der Zauberflöte strömen alle zusammen: das Chaos und das Licht, die Berge und die Vögel, die Bären und das Gewürm, die ganze Schöpfung tut sich auf und dient der Sage vom Menschen, dient der Legende der Menschlichkeit.“

Attila Csampai

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.