Konzertarien

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t1 Konzertführer
Wolfgang Amadeus Mozart
Konzertarien

Ein Gattungsbegriff dieser Art begegnet weder in Dokumenten von Mozarts eigener Hand noch überhaupt im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Köchel rechnet die zu einer Werkgruppe zusammengefassten Arien, Szenen, Ensembles und Chöre mit Orchester zu den Bühnenwerken; sehr zu Recht, denn nahezu alle diese Kompositionen sind auf Texte damals oft vertonter Libretti geschrieben. Lässt man die Duette, Ensembles und Chöre außer Betracht, so bleibt etwa ein halbes Hundert von Werken für eine Solostimme und Orchester, von dem mehr als die Hälfte für Sopran bestimmt ist, nur acht für Tenor, sieben für Bass und eines für Alt. Das Überwiegen der Sopran-Arien erklärt sich aus der Entstehung als Auftragswerke, die in der Regel von Primadonnen bestellt wurden. Dabei waren solche Arien keineswegs nur für den Vortrag in Konzerten bestimmt, sondern häufig als Austauschstücke für weniger wirkungsvolle Arien älterer oder zeitgenössischer Opern (ähnlich verfuhr noch der junge Richard Wagner mit einzelnen Arien aus Opern von Bellini und Marschner). Wählerisch konnte Mozart bei solchen Aufträgen bezüglich der Textvorlagen kaum sein; so stammen nicht weniger als neunzehn dieser Texte von dem Hofpoeten Pietro Metastasio, und nicht nur sie müssen – zumindest für den reifen Mozart – als stilistisch veraltet angesehen werden, vermögen mit Lorenzo da Pontes Libretti nicht Schritt zu halten. Erst ab 1788 finden wir beinahe ausschließlich Vertonungen von dessen Versen; sechs dieser späten Arien bilden nachkomponierte bzw. ausgeschiedene Nummern aus Le Nozze di Figaro, Don Giovanni und Cosi fan tutte, darunter das berühmte Dalla sua pace für die Rolle des Don Ottavio. Die Bezeichnung ‚Konzertarie‘ darf also nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine meist sehr konkrete Bühnensituation den geistig-emotionalen Hintergrund dieser Kompositionen bildet, gleich ob sie als Einlagen für fremde Opern oder für Mozarts eigene Werke bestimmt sind. Nicht reine Kehlfertigkeit und Zwerchfellakrobatik interessierte den Komponisten, vielmehr wurden ihm als geborenem Dramatiker solche Werke in immer gelungenerer Art zu musikalischen Charakterstudien. Stilistisch bilden sie zwischen der Vollendung des ldomeneo (1780) und dem Beginn der Arbeit an La Clemenza di Tito (1791) die einzige schöpferische Verbindung Mozarts zur Gattung der opera seria.

Einige der späten Arien fallen durch ausgiebige Verwendung von Obligat-Instrumenten auf. So schreibt die Partitur der im März 1786 für die Wiener Revision des Idomeneo nachkomponierte Scena con Rondo KV 490 (Non piit, tutto ascoltai – Non temer, amato bene für Tenor) eine Solovioline vor, die über dem Streichertutti mit der Stimme und den Bläsern (je zwei Klarinetten, Fagotte und Hörner) konzertiert. Ist dieses Werk – als neugestalteter Beginn des zweiten Aktes – eindeutig auf die Erfordernisse und Möglichkeiten des Theaters ausgerichtet, so weist die Scena con Rondo KV 505 (Chi'o mi scordi de te für Sopran) durch das obligate Klavier auf konzertante Verwendung, wenngleich ihr Text dem ldomeneo-Libretto entnommen ist. Mozart hat dieses Werk für die englische Sopranistin Nancy Storace (die erste Susanna des Figaro) und sich selbst geschrieben. Ein ausgesprochenes Konzertstück ist auch die Bass-Arie KV 612 (Per questa bella mano) mit obligatem Kontrabass; weder der Librettist noch ein szenisch-dramatischer Zusammenhang, in den das Stück gehören könnte, sind bekannt. Bestimmt war die Komposition für den seriösen Bassisten Gerl (den ersten Sarastro) und den Kontrabss-Virtuosen Pischlberger.
Hartmut Becker

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.