Witold Lutosławski

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t1 Konzertführer
Witold Lutosławski
Witold Lutosławski

Warschau, 25. Januar 1913 – Warschau, 7. Februar 1994

Der Pole Witold Lutosławski ist zweifellos einer der wichtigsten Komponisten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auf Grund der politischen Verhältnisse in Polen verlief seine Entwicklung wenig geradlinig, ab etwa 1960 erarbeitete sich Lutosławski eine eigene musikalische Sprache, die er fortan konsequent weiterentwickelte. Stehen seine ersten Werke noch im Zeichen des Neoklassizismus, so eignete sich Lutosławski danach Techniken an, die an Strawinsky und Bartók orientiert waren. Die Jeux Vénetiens aus dem Jahre 1961 brachten dann zum ersten Mal die sogenannte ‚begrenzte Aleatorik‘. Darunter ist eine Schreibweise zu verstehen, die innerhalb bestimmter Abschnitte den Ausführungen eine relative Freiheit des Vortrags gewährt: etwa bei vorgeschriebenen melodischen Linien die Freiheit der genauen rhythmischen Ausforschung oder der Tempowahl, wodurch sich ein komplexes Stimmengeflecht ergibt, dessen Rahmenbedingungen vom Komponisten festgelegt sind. Jede Aufführung wird sich so von einer anderen merklich unterscheiden, dennoch bleibt die Identität eines Werkes gewahrt. Die späteren Kompositionen Lutosławskis bauten diese Technik weiter aus und untersuchten ihr innewohnende Möglichkeiten. Verblüffend wirkt dabei die Tatsache, dass trotz aller konstruktiven Verankerung die Musik Lutosławskis stets eine ganz spontane Vitalität und Ausdrucksintensität behält.

Die Symphonischen Variationen aus dem Jahre 1938, ein Werk von knapp zehn Minuten Dauer, sind Lutosławskis erste Orchesterkomposition. Deutlich lehnt sie sich stilistisch an Igor Strawinsky an. Beachtlich ist jedoch die Souveränität der Instrumentation, die dem Werk virtuose Brillanz verleiht.
Die Vorliebe für geschärfte Instrumentalfarben, die schon in den Symphonischen Variationen unüberhörbar ist, bestimmt auch wesentlich den Klang der ersten Symphonie, die 1947 beendet wurde. Sie ist traditionell viersätzig (Allegro giusto – Poco adagio – Allegro misterioso – Allegro vivace), ebenso bleiben die Satzcharaktere durchaus in konventionellem Rahmen. Der Grundzug ist heiter, manchmal frech und widerborstig, zugleich aber mischt sich eine ironische Distanz in den Ton, eine Doppelbödigkeit, die vor allem durch grelle Klangfarben (geräuschartige Streicherpassagen, Bläserglissandi etc.) oder durch betonte gestische Übertreibungen (wovon schon das lapidare, signalartige Tanzmotiv im ersten Satz kündet) das Werk auf die Ebene des Surrealen rückt. Prokofjew, Strawinsky und Bartók klingen an, dennoch wirkt die Musik keineswegs wie ein Stilplagiat. Eigentlich will sie nicht so recht in die Zeit ihrer Entstehung passen (was mit Lutosławskis Biographie zusammenhängt): Die Symphonie hat die Frische des jungen Neoklassizismus und gleichzeitig die kritische Distanz des gealterten.

Relativ häufig wird das Konzert für Orchester aufgeführt. Es entstand 1950 bis 1954 und entfernt sich deutlich von neoklassizistischen Ausrichtungen. Gleichwohl bleibt die musikalische Sprache tonal, auch sind deutliche Anklänge an folkloristische Wendungen auszumachen. Lutosławski brachte mit diesem Werk (wie auch mit der vier Jahre später entstandenen Trauermusik) eine Hommage an Bartók, dessen kompositorischen Ansatz er konsequent fortsetzte. Das Konzert für Orchester ist dreisätzig, die Satzüberschriften benennen sehr konkret die einzelnen Charaktere: Intrada – Capriccio notturno e Arioso – Passacaglia, Toccata e Corale. Die Musik ist ungemein abwechslungsreich und voller Elan, nichts Antiquiertes haftet den im Grunde vertrauten Satzmitteln wie etwa der stampfenden Motorik des ersten Satzes oder den Fanfaren- und Choralteilen des letzten Satzes an. Mitunter entsteht der Eindruck des ‚Lackierten‘, so als seien bekannte Ausdrucksgesten in grelle Farben getaucht. Auf diese Weise wirkt die Musik ausgesprochen modern, ohne sich avantgardistisch ins Abseits zu stellen. Weithin bekannt ist der erste Satz mit seinem rhythmisch wie melodisch pointierten Thema und den pochenden Begleitgestalten. Typisch für den späteren Lutosławski ist der zweite Satz mit seinen wispernden Klangwelten, in die harte Schläge des Orchesters einbrechen. Formal komplexer ist das Finale, dessen langsame Steigerung über einem Passacaglia-Thema in einen pathetischen Schlusschoral mündet.
Nach den versierten und launig unbeschwerten Tänzerischen Präludien für Klarinette und Orchester von 1955 (die Umarbeitung einer Fassung für Klarinette und Klavier) ist in der 1956 bis 1958 entstandenen Trauermusik für Streicher ein neuer kompositorischer Stand erreicht. Erstmals nämlich verwendet Lutosławski in diesem dem Andenken Béla Bartóks gewidmeten Werk eine Zwölftonreihe. Vom Schönberg‘schen Reihendenken unterscheidet sich Lutosławskis Kompositionsweise jedoch beträchtlich. Im ‚Prolog‘ wird die aus Tritoni und fallenden Sekunden, Symbolen der Trauer, bestehende Reihe zunächst horizontal entfaltet, in kontrapunktischer Schichtung mehrerer Stimmen. ‚Metamorphosen‘, der zweite Teil des einsätzigen Werkes, konfrontiert dann gleichsam Lutosławskis dodekaphone Schreibweise mit seiner eigenen Vergangenheit, der folkloristisch beeinflussten Phase. Emotionaler Höhepunkt der Trauermusik ist der dritte Teil, ‚Apogäum‘, was in etwa ‚entferntester Punkt‘ bedeutet: Zwölftonakkorde, die so in sich das chromatische Total aufheben, verdichten und verengen sich bei ständig langsamer werdendem Tempo zum Einklang, aus dem heraus im ‚Epilog‘ nochmals die Reihe sich melodisch entfaltet. Die vier Teile bilden so eine an Bartók orientierte Bogenform. Trotz des konstruktiven Reihendenkens besticht die Trauermusik durch ihre emphatische Ausdrucksdichte.

Lutosławskis chromatische Verwendung der Zwölftonreihe zeigen auch die Fünf Lieder nach Worten von Kazimiera Illakowicz für Frauenstimme und dreißig Soloinstrumente, die gleichzeitig mit der Trauermusik entstanden. Es sind empfindsame und klanglich hochdifferenzierte Kompositionen von großem Reiz.
Wenn auch die Trauermusik und die in den Jahren 1958 bis 1960 entstandenen drei Postludien schon avantgardistische Züge aufwiesen, so musste die Wandlung Lutosławskis in den Jeux Vénetiens doch verblüffen. In der Tat hat sich hier der musikalische Charakter – und hierfür ist nicht allein die Technik der ‚begrenzten Aleatorik‘ verantwortlich – von Grund auf geändert. Die Komposition entstand 1961 und wurde im gleichen Jahr uraufgeführt. Schon Jahre davor hatte Cage aleatorische Kompositionsprinzipien nach Europa gebracht, wo sie heftigen Widerspruch, aber auch Versuche modifizierender Anverwandlung (etwa bei Stockhausen und Cage) erfuhren. Lutosławskis Handhabung wirkt gerade wegen ihrer Einfachheit ungemein plausibel: Der Komponist kalkuliert die klanglichen Möglichkeiten seiner Notation bis in ihre Extreme ein, setzt Rahmenbedingungen und gestattet gleichzeitig eine weithin freie Interpretation. So gibt es in den Jeux Vénetiens Partien, die genauestens ausgeführt sind, dann wieder Abschnitte mit großen Freiheiten, in denen dem Dirigenten lediglich die Aufgabe zukommt, Anfang und Schluss anzugeben, nicht mehr aber Takt und Tempo. Auch Zwischenformen finden sich, so etwa im dritten Teil des vierteiligen Stücks, wo ein langes Flötensolo mit der Begleitung nur ungefähr koordiniert ist. Am faszinierendsten wirkt die großangelegte Steigerung des Schlussteils von gespannter Ruhe zu einem gewaltigen Ausbruch in den Bläsern, schließlich im Schlagzeug. Danach zerfällt das musikalische Geschehen.

In den Trois Poèmes d’Henri Michaux für zwanzigstimmigen Chor und Orchester knüpft Lutosławski an die Technik der ‚begrenzten Aleatorik‘ an und baut sie weiter aus. Höhepunkt des 1962/63 entstandenen Werkes ist der mittlere Satz Le grand Combat‘, der von den ruhigeren Ecksätzen ‚Pensées‘ und ‚Repos dans le Malheur‘ eingerahmt wird. Sprechgesang, Flüstern, Schreie, Glissandi, Konfrontation von einzelnen Sprechsilben – all diese Mittel dienen der hochexpressiven Auslegung der Gedichte. Die Aleatorik bringt Züge des Chaotisch-Tumultuösen in die Musik, setzt gleichzeitig beim Interpreten ungebundene Ausdrucksenergien frei. Die in den Jeux Vénetiens gewissermaßen noch spielerisch eingeführten Mittel stellen hier ihre Fähigkeit unter Beweis, auch starke Emotionen völlig neuartig ausdrücken zu können.
Nach dem Streichquartett von 1964 – einem Schlüsselwerk der Quartettliteratur des letzten Jahrhunderts – folgt 1965 ein weiteres Vokalwerk: Paroles tissées (Gewobene Worte) nach Jean-François Chabrun. Das Orchester ist auf Streicher, Harfe, Klavier und Schlagzeug reduziert. Schon dies deutet auf den sensiblen Charakter des Werkes hin, das nirgendwo die Drastik der Michaux-Gesänge anstrebt. Vielmehr bilden die verschieden exakt auszuführenden melodischen Linien ein Gewebe genau ausdifferenzierter Ausdrucksnuancen.

Die zweite Symphonie, abgeschlossen 1967, markiert einen neuen Höhepunkt im Schaffen Lutosławskis. Zwei Sätze, ‚Hésitant‘ und ‚Direct‘ überschrieben, gehen ohne Pause ineinander über. Der erste Satz hat dabei gewissermaßen die Funktion einer statischen Materialauflistung, während der zweite, wesentlich längere die eigentliche Entwicklung in sich birgt. Von ruhigen Klangflächen ausgehend, gewinnt der Satz zunehmend Energie, die klangliche Öffnung bei gleichzeitiger Komprimierung des Materials baut eine Spannung auf, die sich in immer neuen Klangkaskaden entlädt. In seinen wild durcheinanderlaufenden Stimmen und Motivfetzen entwickelt der Satz nahezu apokalyptische Gewalt.

‚Direct‘ ist eine der gewaltigsten Steigerungen der Musikgeschichte, dabei einer psychologischen Verlaufskurve vergleichbar, von Unruhe über immer stärkere Erregung bis hin zum Ausbruch und schließlicher Ermattung. (Mit der traditionellen symphonischen Form hat dies nichts mehr gemein; Lutosławski wählte den Titel nach eigenen Angaben lediglich, um auf den Anspruch dieses großen Orchesterwerkes hinzuweisen.)
Nach der zweiten Symphonie schrieb Lutosławski 1968 Livre pour Orchestre, ein viersätziges Werk, das jedoch eine übergeordnete Zweiteiligkeit aufweist (Sätze 1–3 und Satz 4). Stärker noch als in der zweiten Symphonie, wo sie zum ersten Mal verwendet wurden, dominieren hier die Vierteltöne, die eine weitere klangliche Verdichtung, ein gleichsam ausgeschriebenes Glissando, ermöglichen. Zurückgenommen sind die aleatorischen Momente, die Expressivität und der Klangfarbenreichtum verweisen jedoch deutlich auf das Vorbild der zweiten Symphonie.

Ein zentrales Werk der Konzertliteratur dieses Jahrhunderts ist das Konzert für Violoncello und Orchester, das 1970 vollendet wurde und die bisher gemachten Erfahrungen auf einen Kommunikationsprozess zwischen Individuum und Gruppe (Soloinstrument und Orchester) umsetzt. Wirklich ist hier die Idee des Dialogs, der Reaktion der musikalischen Partner aufeinander, des Einspruchs wie der Bestätigung, ganz konkret verwirklicht, so etwa in den langen Dialogen des ersten Teils, dem lyrisch-gesanglichen Violoncello-Melos des zweiten, das in ein emphatisches Unisono von Solist und Orchester mündet. Alle musikalischen Gestalten, das beteiligungslose Pochen zu Beginn, das am Ende auftrumpfend und um eine Quinte nach oben transponiert wiederkehrt, die Tutti-Cluster von unverhüllter Gewalt, dazwischenfahrende Fanfaren-Motive – all dies hat überaus beredten Charakter und entwirft plastisch das Bild einer Kommunikation, die jedoch nicht frei ist von Beklemmung und Angst und in der Konfrontation des einzelnen mit der Masse durchaus tragische Züge aufweist. Das spezifische aleatorische Denken Lutosławskis, das ja das Einzelgeschehen innerhalb eines Prozesses relativ wenig kontrolliert, zugleich aber dessen gesamten Verlauf genau zu steuern weiß, lässt dabei durchaus Parallelen zu einer ‚Psychologie der Massen‘ herstellen. Im Cellokonzert, das Mstislaw Rostropowitsch gewidmet ist, spielen nicht zuletzt diese Bezüge zwischen Kompositionstechnik und menschlicher Kommunikation eine wichtige Rolle.
Nach der tragisch angespannten Situation des Cellokonzerts scheint Lutosławski in den folgenden Werken einen weniger belasteten Ton gesucht zu haben, wirken diese doch lockerer, gleichsam klassizistischer. Die Präludien und Fuge für dreizehn Streicher aus dem Jahre 1972 etwa stellen dem Interpreten frei, entweder alle Teile des Werkes in der vorgegebenen Reihenfolge zu spielen oder aber einzelne Abschnitte auszuwählen und neu zusammenzustellen. Sieben Präludien von unterschiedlichem Charakter folgt eine wiederum sechsteilige Fuge, die auf ihrem Höhepunkt alle sechs Themen (in denen, wie in der Trauermusik, Tritoni und fallende Sekunden eine große Rolle spielen) in Engführung übereinanderschichtet.

Von gelösterem Ton sind auch Mi-parti von 1976 und Novelette für Orchester, das 1979 entstand. Und auch das 1980 uraufgeführte Doppelkonzert für Oboe, Harfe und Kammerorchester nimmt einen rhapsodischen und teilweise bukolischen Charakter an. Die dritte Symphonie freilich, an der Lutosławski von 1972 bis 1983 arbeitete, hat ernsteren Charakter, wirkt als ein Resümee. Sie ist weitaus karger als etwa die zweite Symphonie, verbleibt häufig in Andeutungen. Markante Tutti-Schläge, mehrfach repetiert, stecken das formale Gerüst der Symphonie ab, geben den musikalischen Gestalten gewissermaßen das ‚Startsignal‘ und unterbrechen ebenso rigide die gerade aufgebauten Entwicklungen. Es entsteht so die Wirkung eines plötzlichen Beleuchtungswechsels, als würden von einer im Dunkeln liegenden Landschaft immer andere Motive ruckartig und grell angestrahlt. Schon immer spielten diese ‚Einsatzmotive‘ für das aleatorische Komponieren Lutosławskis eine wichtige Rolle, hatten sie doch die formale Aufgabe, neue aleatorische Felder einzuleiten. In der dritten Symphonie jedoch wird das formale Prinzip zu einem inhaltlichen erhoben – auch hierin bekundet sich die Reife und der zusammenfassende Charakter des Werkes. Wie die zweite Symphonie ist auch die dritte zweiteilig, wobei der erste eher vorbereitenden Charakters ist, ruhig und den Zuhörer, wie Lutosławski sagt, zwar fesselnd, aber unbefriedigt lassend. Erst der zweite Satz bringt das eigentliche Hauptthema. Mit seinen kontrastierenden Themen stellt er gewissermaßen eine Reminiszenz an die klassische Symphonie dar, auf die sich Lutosławski auch ausdrücklich bezog. Einer großen Steigerung zum Höhepunkt des Werkes schließt sich ein ‚Abgesang‘ im Adagio an, eine kurze Coda beschließt mit den thematischen Tutti-Schlägen, die in den vorhergehenden Takten ausgespart blieben, die dritte Symphonie. Sie ist klarer und durchhörbarer angelegt als frühere Kompositionen, besticht (wie alle Werke Lutosławskis) durch ihre direkte emotionale Wirkung. 1985 erhielt Lutosławski für seine dritte Symphonie den Grawemeyer-Preis der Universität Louisville, den höchstdotierten Kompositionspreis der Welt.

In seinem letzten Lebensjahrzehnt war bei Lutosławski eine Tendenz zu festeren, klarer geprägten Formen deutlich zu bemerken. Zu der freien Expansion klanglich dominierter Strukturen, gebildet aus begrenzt aleatorischer Verschachtelung von akkordischen oder motivischen Zellen, gesellte sich nun ein weitaus größeres Interesse an melodischer oder harmonischer Bildung. Eine Reihe von drei Werken trägt hierbei die Oberbezeichnung
Chain (Kette), wobei sowohl die aleatorischen Techniken weiter ausgebaut, auf der anderen Seite aber völlig neue Formprinzipien gesucht werden. Lutosławski äußerte dazu im Jahr 1986 selbst: „Während der letzten Jahre habe ich an einer neuen Art der musikalischen Form gearbeitet, die sich aus zwei von der Struktur her unabhängigen Schichten zusammensetzt. Teile innerhalb der Schichten beginnen und enden zu verschiedenen Zeiten. Von daher ist die Wahl des Begriffs ‚Kette‘ zu verstehen.“

Das kammerorchestrale Werk Chain I für 14 Instrumente entstand 1983, Chain II, Dialogue for violin and orchestra wurde 1985 geschrieben, im gleichen Jahr entstand auch das sehr klangmassive Werk Chain III für Orchester. Die Werke stehen, trotz ihrer gleichlautenden Titel, in keinem Zusammenhang, allein die verwandten Formprinzipien sind Grund für die Gleichheit der Benennung. Chain II steht vielmehr in direkter Verbindung zu einer 1984 geschriebenen Partita für Violine und Orchester; beide Werke entstanden im Hinblick auf die Geigerin Anne-Sophie Mutter, sie nehmen Bezug auf den erfüllt-kräftigen, virtuosen und zugleich geschmeidigen Ton dieser Geigerin. Wichtiges Merkmal der Arbeiten dieser Zeit ist der Wechsel zwischen ‚A battuta‘-Partien, in denen der Dirigent den Takt schlägt, und ‚Ad libitum‘-Passagen, in denen die Strukturierung des Zeitverlaufs den Interpreten überantwortet ist. Alle Chain-Werke und die Partita sind von direkt sprechender klanglicher Direktheit, eine Fülle an Klangerfahrung ist unmittelbar spürbar, gleichzeitig das Bestreben des Komponisten, allzu theoretischen formalen Prinzipien die Kraft spontaner Erfindung entgegenzusetzen.

Noch einen Schritt weiter ging das 1988 abgeschlossene Klavierkonzert, das dem Pianisten Krystian Zimerman gewidmet ist. Trotz der sehr abstrakten, allein das Tempo anweisenden Satzvorschriften (1. Satz: punktiertes Viertel = ca. 110; 2. Satz: Presto; 3. Satz: Achtel = ca. 85; 4. Satz Viertel = ca. 84; alle Sätze gehen direkt ineinander über) reflektiert das Konzert wie kaum ein zweites Werk von Lutosławski die Geschichte seiner Form und der damit implizierten Ausdruckshaltungen. Das Klavierkonzert ist Lutosławskis Antwort auf die postmodernen Tendenzen dieser Zeit, die romantische Konzert-Gestik etwa von Chopin bis Rachmaninow und Bartók wird als Strukturelement einbezogen und den Mechanismen des kompositorischen Denkens von Lutosławski unterworfen. Es entsteht ein verblüffend heterogenes Gebilde aus vertrauten Wendungen und neuartiger Behandlung derselben. Eine weiterentwickelte musikalische Logik liegt über tradierten musikalischen Sprachmitteln. Aus ihrer dialektischen Spannung wächst die außerordentliche Faszinationskraft dieses Werks.
1993, kurz vor seinem Tod, stellte er noch eine vierte Symphonie fertig, fast ein halbes Jahrhundert beschäftigte sich Lutosławski also in vier manifest-artigen Kompositionen mit dieser Gattung – jede schrieb den ästhetisch-technischen Stand des Komponisten fest. Die zweisätzige vierte Symphonie (langsam – schnell) erweist sich hierbei, trotz nur zwanzigminütiger Dauer, als geradezu monumentaler Entwurf in die Zukunft. In ihr gelang das Gewicht des Melodischen, das der späte Lutosławski immer wieder als Prospekt seines Schaffens benannte, entschieden zur Geltung. Aber auch alle Techniken, die Lutosławski je entwickelte, kommen in dieser Komposition zur Sprache. Sie ist Resümee als Blick ins Offene. Zu seinem achtzigsten Geburtstag äußerte der Komponist einmal, er müsse jetzt nur noch „seinen Falstaff“ schreiben. Die vierte Symphonie hat nicht zuletzt durch ihr Prinzip der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichartigen‘, der zum Darstellungsmodell erhobenen ‚Vielheit von Ereignissen‘, einiges hiervon.
Reinhard Schulz

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.