Violinkonzert Nr.1 D-dur op. 19

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t1 Konzertführer
Sergei Prokofjew
Violinkonzert Nr.1 D-dur op. 19

Prokofjew hat an diesem dreisätzigen Konzert neben seiner Klassischen Symphonie gearbeitet, in unbeschwerten Jugendtagen auf dem Gut Sonzowka, das seine Eltern verwalteten, und es in seiner Autobiographie als ein „lyrisches“ Werk den „grotesken“ Schöpfungen jener Schaffensepoche gegenübergestellt. Der vorgesehenen Petrograder Uraufführung kam die Revolution dazwischen, und es erklang erst am 21. Oktober 1923 in Paris – mit Marcel Darrieux unter Sergej Koussevitzky; Prokofjew lebte inzwischen im Westen.

Seine Jugendwerke der russischen Zeit haben – ob grotesk oder lyrisch – mehr noch als spätere Kompositionen viel von der unbekümmerten Unkonventionalität der zeitgenössischen ‚Wilden‘ Malerei (ein Begriff, der in Bezug auf die russische Kunst 1912 im
‚Blauen Reiter‘ Wassily Kandinskys und Franz Marcs geprägt wurde): im Sinne einer die Zeitgenossen verblüffenden, Geschmacksregeln missachtenden Suche nach künstlerischer Wahrhaftigkeit auf neuen, aber mitunter auch archaischen Wegen. Obschon Kontakte zu den russischen Futuristen nicht belegt sind, hat Prokofjew viele von deren Ideen in seiner Musik realisiert. Der Schlusssatz mit der immer höher klimmenden Solovioline entbehrt nicht der grotesken Übersteigerung; jedoch sind in diesem Konzert viele Töne seines späteren ‚neuen Romantismus‘, einer introvertierten ‚Märchenhaftigkeit‘, vorweggenommen. Andererseits konnte er sich dem Denken der Epoche nicht entziehen: Seine Musik hatte schon sehr früh den Charakter einer motorischen, antiemotionalen ‚Neuen Sachlichkeit‘ und jene Tendenz, der Prokofjew selbst in den dreißiger Jahren die Bezeichnung „neue Einfachheit“ geben sollte: eine theatralische, inszenierte Rückkehr zu den klassischen Formen und Ausdrucksmitteln, deren Verfremdungen sich mikroskopisch aus winzigen Verschiebungen und Schräglagen der harmonischen Strukturen ergeben.
Detlef Gojowy

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.