Symphonie Nr. 6 es-moll op.111 (1945/46)

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t1 Konzertführer
Sergei Prokofjew
Symphonie Nr. 6 es-moll op.111 (1945/46)

Die dreisätzige, am 10. Oktober 1947 in Leningrad uraufgeführte Symphonie Nr. 6 es-moll op.111 (1945/46) könnte man – in ihrem absurden Gegen- und Ineinander von Lyrischem und Skurrilem – als ein Beispiel ‚sozialistischen Surrealismus‘ bezeichnen, wenn es diesen Begriff gäbe. Als ein großer ironischer Aufzug scheint sie in ihrer Theatralik der vierten Symphonie von Schostakowitsch verwandt. Sie greift die erwünschten Gestalten und Gesten musikalischen Realismus auf und verfremdet sie in ungewöhnlichen Instrumentationen. Melodisches erscheint in kantigen Mixturen, der revolutionäre Schwung von Tumultuoso-Szenen wird auf absurde Weise gebremst und mündet in eine pessimistische Aussage. Die Stalin-Zeit brachte auf diese Weise düstere Karikaturen hervor – als wenn der Komponist auf Gogol‘sche Weise die Strukturen einer Bürokratie beschriebe. Die sieghaften Aufbrüche in Traditionen der plastischen russischen Ballett- und Opernsprache enden immer irgendwie perplex.
Diese Düsternis erscheint im zweiten Satz (Largo) noch potenziert: Jubelnde Melodie wird von minder jubelnden Stimmen und Farben desavouiert. Mittel der (klagenden) Verfremdung sind außer harmonischen Querständen vor allem ungewöhnliche Lagen und Farbkompositionen, krasse Themen und Rhythmen. Das Arsenal russischer Instrumentationslehre wird auf absurde Weise ausgeschöpft, Borodins Polowetzer Tänze werden surrealistisch imitiert.

Im dritten Satz (Vivace) bricht endlich ‚das Positive‘ durch, aber auf welche Weise: in einer quasi polizeilich geregelten, grellen Plakativität. Wenn man diese Musik in ihrer Aussage über Zustände ernst nimmt, begreift man, warum sich die politische Führung in den ZK-Beschlüssen von 1948 dagegen wehren musste. Das Positive gerät zu einer Karikatur des Positiven, das in seiner Dummheit gezeigt wird. Ein Geschwindmarsch, dem die Mittelstimmen fehlen, offenbart die alberne Würde eines Potemkinschen Dorfes. Ein plastischer ballettmäßiger Schluss ist wieder von Schwermut durchzogen – im bombastischen Ausklang werden alle Theatermittel massiert. In der Hintergründigkeit und Skurrilität ihrer Darstellung und der Skepsis ihrer Aussage tritt diese Symphonie die Nachfolge von Gogol und Tschechow an.

Prokofjew hatte diese Symphonie während der Kriegsjahre parallel zu seiner Arbeit an dem Sergej Eisenstein-Film Iwan der Schreckliche konzipiert, der später in Ungnade fiel. Er hatte die Absicht, sie dem Andenken Beethovens zu widmen. Die offizielle Kritik bezeichnete sie als „widersprüchlich“ und „eigenartig“, wich aber einer Auseinandersetzung mit ihr eher aus.
Detlef Gojowy

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.