Die fünf Klavierkonzerte

Zurück
t1 Konzertführer
Sergei Prokofjew
Die fünf Klavierkonzerte

Wie sein Antipode Schostakowitsch war auch Sergej Prokofjew ein hervorragender Pianist. Was die beiden aber wesentlich unterscheidet, ist die musikalische Grundhaltung: Prokofjew war, ähnlich wie Igor Strawinsky auch, ein musikalischer Weltbürger, während Schostakowitsch im Bereich der russischen Tradition blieb und dabei in ungeahnte Tiefen vordrang. Prokofjew dagegen nahm die Haltung des komponierenden Virtuosen an und wurde zu einem der wichtigsten Klavierkomponisten nach Skrjabin, mit dessen glühend-ekstatischer Musiksprache er indessen überhaupt nichts gemeinsam hat. Ein Drittel des Gesamtwerkes von Prokofjew besteht aus Klaviermusik, darunter neun Sonaten und fünf Konzerte. Damit hat er mehr für das Klavier komponiert, als irgendein anderer Komponist nach Skrjabin und Debussy. Einige Werke aus dieser erstaunlich großen Produktion gehören – wie etwa das dritte Klavierkonzert oder die siebente Klaviersonate zu den meistgespielten des Repertoires überhaupt. Seine Klavierwerke schrieb Prokofjew allerdings auch in erster Linie als Kenner des Instruments, also für seine eigenen, entdeckungsfreudigen Finger, und er führte sie meist auch selbst auf. So brachte er sein erstes, zweites, drittes und fünftes Klavierkonzert selbst zur Uraufführung; das vierte indessen, für die linke Hand allein geschrieben, wurde erst drei Jahre nach seinem Tod uraufgeführt.

Aus Prokofjews pianistisch-virtuosen Fähigkeiten resultiert seine besondere musikalische Sprache. Sie vereinigt eine Lust am Erfinden neuartiger Fingersätze und an der Erweiterung der Klaviertechnik insgesamt mit dem Hang zu kraftvoller Gestik, robustem Optimismus und vor allem zur eigenwilligen, äußerst feinfühligen Rhythmik, ferner einer farbigen Orchesterpalette im Fall der Klavierkonzerte. Die Haltung des Virtuosen prägt allenthalben Prokofjews musikalische Satztechnik: Der Zwiespalt zwischen Interpret und Komponist, den die musikalische Entwicklung seit Beethoven etabliert hat, ist hier aufgehoben. Im Gegensatz zu Strawinsky oder gar der Wiener Schule Schönbergs war Prokofjew nicht an neuartiger Kompositionstechnik interessiert, sondern in erster Linie an der Wirkung, die sie auf das Publikum ausübt. So war es nur folgerichtig, dass der junge Prokofjew, der Zeittendenz getreu, zunächst das Publikum bewusst zu schockieren suchte, um dann später über ‚neoklassizistische‘ Töne (drittes Klavierkonzert) zu einer Art ‚neuen Einfachheit‘ vorzudringen (so geschieht es im fünften Klavierkonzert, in der fünften Symphonie und vor allem in dem Ballett Romeo und Julia). Sein musikalischer Stil pendelt also zwischen Extravaganz und gesuchter, bewusster Simplizität. Konservativ dagegen komponierte er freilich nie. Es wäre ungerecht, den jungen Prokofjew, wie es so oft – gerade hierzulande – geschieht, gegen den späten, ‚einfachen‘ auszuspielen, denn wie wollte man einem Komponisten den berechtigten Hang zu Verständlichkeit und Klarheit seiner Tonsprache verübeln? Und Prokofjew blieb zeitlebens der Tonalität treu; ‚atonale‘ Ausflüge unternahm er nur zu pittoresken Zwecken, sah sie als provozierenden Kontrast (zweites Klavierkonzert), als Erweiterung des musiksprachlichen Radius an.

Gewöhnlich teilt man Prokofjews Schaffen in drei Perioden ein. Für die Klavierkonzerte heißt das: Die ‚russische‘ Periode umfasst die ersten beiden Konzerte, die nach 1918 einsetzende ‚westliche‘ Periode alle anderen, während die ‚sowjetische‘, nach der endgültigen Rückkehr des Komponisten in seine Heimat im Jahre 1935, keine Klavierkonzerte mehr hervorgebracht hat. Die fünf Klavierkonzerte umspannen den Zeitraum von rund zwanzig Jahren. In ihnen vollzieht sich eine erstaunliche kompositorische Entwicklung. Noch als Schüler des Petersburger Konservatoriums schrieb der junge Komponist im Jahre 1911 sein erstes Klavierkonzert Des-dur op.10 (in einem Satz), mit dem er sogleich unter Beweis stellte, dass er dem akademischen Kompositionsunterricht längst entwachsen war und seine eigenen Vorstellungen von Musik realisieren konnte. In seiner Autobiographie nennt er das Konzert „das erste mehr oder weniger reife Werk, insofern es sich darin um eine neue Klangidee und um eine Formänderung handelt“. Er spricht auch von „neuen Zusammenklängen von Klavier und Orchester“ und beschreibt die neuartige, einsätzige Form des Konzerts als „Folge von einzelnen Episoden“, die aber „untereinander in einem ziemlich engen Zusammenhang“ stünden. Das Verhältnis von Klavier und Orchester ist ganz elementar bestimmt durch den auskomponierten klanglichen Gegensatz zwischen dem harten Metallklang und dem vollen Orchesterklang. Vom Pianisten verlangt Prokofjew eine gleichsam stählerne Fingerakrobatik, die neben der Schlag- und Hämmertechnik auch noch über gerissene, gewissermaßen ‚gezupfte‘ Anschläge verfügen muss. Der ‚moderne‘ Ton, der sich hier Bahn bricht, entspringt ganz unmittelbar der Mechanik des Klavierspiels. Das Konzert beginnt mit jenem berühmt gewordenen, kraftvollen, ja mitreißenden Thema, das Francis Poulenc „eine Art athletischen Jubelgesang“ genannt hat, der charakteristisch sei für dieses von Prokofjew für sein eigenes, „präzises, makelloses, muskulöses“ Klavierspiel konzipierte Stück. Eine Tendenz der russischen Musik, wie sie Mussorgskij als erster entwickelt hat, kommt hier zu gewaltigem Durchbruch: die Tendenz nämlich, buchstäblich handgreifliche, körpernah-gestische Musik zu schaffen, der so etwas wie verinnerlichter Ausdruck fremd ist. Deshalb sind denn auch die lyrischen Episoden entweder tiefsinnig-phantastisch (im Fall der ersten) gehalten, freilich mit nervös-gespanntem Ausdruck oder, wie im Fall der zweiten Episode (Andante assai), ruhig und nachdenklich, jedenfalls an keiner Stelle sentimental.

Die formale Anlage wird bestimmt von der refrainartigen Wiederkehr des einleitenden Themas mitsamt dem nachfolgenden Sonaten-Allegro. Die langsamen Episoden vertreten den Seitensatz und die Position des langsamen Satzes. Die Durchführung ist als Scherzo gestaltet. Mit einer solchen komplexen Formkonzeption, bei der mehrere Sätze in einem zusammengefasst sind, stand Prokofjew ganz auf der Höhe der Zeit, obwohl es fraglich erscheint, dass er Schönbergs einsätzige Großformen der ersten Kammersymphonie oder des ersten Streichquartetts gekannt haben könnte. Zwei Jahre später schrieb Prokofjew, ebenfalls noch als Konservatoriumsschüler, das zweite Klavierkonzert g-moll op. 16 (in vier Sätzen), arbeitete es jedoch 1923 für eine Aufführung in Paris unter Sergej Koussevitzky einschneidend um, insbesondere den Orchestersatz, den er jetzt klanglich erheblich zu verfeinern verstand. Die kompositorischen Probleme waren eben hier ganz andere als im ersten Konzert, an dem das zweite in der ursprünglichen Fassung gewissermaßen Kritik üben wollte: „Die Vorwürfe des Haschens nach äußerem Glanz und eines gewissen Jonglierens im ersten Konzert führten mich dazu, im zweiten größere Tiefe zu suchen.“

Die Uraufführung dieser ersten Fassung im Jahr der Komposition schockierte das Publikum so sehr, dass viele Zuhörer bereits während der Aufführung protestierend den Saal verließen. Den jungen Komponisten rührte das indessen wenig. Er wusste genau, dass die vermeintlich extravagante Musiksprache des zweiten Konzerts ihre klassischen Momente nur hinter rauer Schale verbarg. Die ungewöhnliche, viersätzige Anlage und der strenge thematische Aufbau sind das Gegengewicht zu der überaus kühnen Harmonik. Die dissonanten Kräfte, die Prokofjew hier mobilisiert, gehen allerdings auch stark an die Grenzen der Tonalität, aber weiter auch wiederum nicht. Und der erste Satz ist nicht nur einer der besten Konzertsätze Prokofjews überhaupt, sondern enthält auch die Neuerung, dass die Durchführung der Kadenz des Solisten vorbehalten ist, die zudem auch noch eine geradezu exzessive Ausdehnung aufweist. Der zweite Satz ist eines jener ‚motorischen‘ Scherzi, die so typisch für Prokofjew sind. Der Hörer wird ständig in Atem gehalten von lauter überraschenden, teilweise witzigen harmonischen Wendungen, die sogar ins Makabre hinüberreichen. Der eigentliche Stein des Anstoßes war bei der Uraufführung der dritte Satz (Intermezzo) mit seinen drohenden, kantigen Basssprüngen und dem nahezu barbarischen Kolorit, das bereits Eigenarten der späteren Skythischen Suite vorwegnimmt. Ebenso ungehemmt, wenn auch diesmal formal streng gezügelt, verhält sich das Finale, in dessen Coda die Lust an der Dissonanz ihre höchsten Triumphe feiert. Als scharfer stilistischer Kontrast dazu wirkt das melodische Thema im russischen Volkston, das den Mittelteil des äußerst gewichtigen Finalsatzes beherrscht. Über dem ganzen Konzert liegt schwer und drohend der dunkle Schatten Mussorgskijs und verwehrt ihm eine unmittelbare, ‚eingängige‘ Publikumswirkung. Aber es zeigt, wie weit die Spannweite der Phantasie Prokofjews reichen kann.

Ganz andere Töne schlägt Prokofjew dagegen in dem ‚neoklassizistischen‘ dritten Klavierkonzert C-dur op. 26 (in drei Sätzen) an, das bis heute das meistgespielte seiner Klavierkonzerte geblieben ist. Skizzen stammen aus der Zeit der Symphonie classique
(1917), einer Art Hommage an Haydn (durch Tschaikowskys Brille hindurch) mit lustigem Augenzwinkern und hoher kompositorischer Qualität, was sich auch auf das dritte Klavierkonzert überträgt. Vollendet wurde es 1921, als sich der Komponist in der Bretagne aufhielt. Die Uraufführung spielte er wieder selbst, diesmal freilich nicht mehr in Russland, sondern in der ‚Neuen Welt‘, in Chicago (am 16. Oktober 1921).
Der unerhörte Erfolg blieb dem Werk auch ein halbes Jahr später bei der Pariser Erstaufführung und weiterhin erhalten. Damals traten Kollegen wie Ravel, Honegger und Poulenc an Prokofjew heran und gratulierten ihm zu dieser überragenden kompositorischen Leistung. Nicht zufällig ist das Konzert in der ‚weißen‘, rationalen, klaren Tonart C-dur geschrieben und damit ein Gegenpol zum finsteren zweiten Konzert. Das ästhetische Ideal der ‚clarté‘, das die jungen französischen Musiker im Gefolge Erik Saties vertraten, wird hier ausdrücklich ins Werk gesetzt und mit dem unverwechselbaren Prokofjew‘schen Witz ausgespielt. Strenge Diatonik löst die chromatisch-dissonante Schreibweise des zweiten Konzerts wirkungsvoll ab. Was aber weit über die ‚neoklassizistische‘ Haltung hinausweist, ist genau der Humor, mit dem das geschieht. Der komponierende Virtuose ist in seinem Element, wirbelt alles durcheinander und behält doch die Fäden hinter den Kulissen sorgsam in der prüfenden Hand. Dem Zuhörer wird es leichter gemacht als in den früheren Konzerten, aber auch nicht zu leicht. Die Eleganz und Lockerheit der Faktur ist bloßer Schein, ähnlich wie in Ravels späterem Klavierkonzert G-dur.

Die Variationen des zweiten Satzes zeigen teilweise sehr wohl die Zähne; man tut gut daran, beim Hören auf der Hut zu sein. Im Schlusssatz spielen auffällige bitonale Wendungen eine wichtige Rolle. Der russische Musikwissenschaftler Boris Assafjew charakterisierte das dritte Klavierkonzert als ein Stück, das die kompositorische Idee austrage, „C-dur zu bekräftigen und zu verherrlichen, nicht als eine Tonart unter vielen, sondern als ganz spezifischen Modus, als ganz eigen Sphäre, die völlig sich selber genügt“. Und es ist das einzige Klavierkonzert Prokofjews in der ‚klassischen‘ dreisätzigen Anlage geblieben. Mit dem vierten Klavierkonzert B-dur op. 53 für die linke Hand (in vier Sätzen) tritt wieder Prokofjews experimentelle Haltung auf den Plan. Mit diesem Konzert hatte er aber Pech. Der einarmige Wiener Pianist Paul Wittgenstein – Bruder des berühmten Philosophen – hatte es in Auftrag gegeben und wollte es dann doch nicht spielen. (Ravel schrieb ebenfalls für ihn das Konzert D-dur für die linke Hand.) So kam es erst drei Jahre nach Prokofjews Tod, also 1956, in Ost-Berlin zur Uraufführung. Die erste sowjetische Aufführung erlebte es sogar erst 1959 (Leningrad). Die Komposition entstand 1931, und Wittgenstein schrieb damals an den Komponisten: „Ich danke Ihnen für Ihr Konzert, aber ich begreife nicht eine einzige Note davon und werde es nicht spielen.“ Prokofjew plante daraufhin sogar eine Umarbeitung für zwei Hände, um das Konzert für eine Aufführung in regulärer Besetzung wenigstens zu retten, doch er kam nicht dazu, den Plan auszuführen. Wittgensteins Ablehnung ist erstaunlich genug, ebenso die Tagebuchnotiz des Komponisten Nikolaj Mjaskowsky, immerhin einer der betonten Anhänger Prokofjews, das vierte Klavierkonzert sei „erwähnenswert, aber etwas trocken“, doch sollte hier etwa ein Missverständnis vorliegen? Es handelt sich nämlich um eine Art Kammerkonzert; das Orchester beschränkt sich auf kleine Besetzung. Doch weder diese Beschränkung, sofern es überhaupt eine ist, noch der Zwang, den Solopart für die linke Hand allein zu entwerfen, hinderten Prokofjews musikalische Phantasie daran, eine ungewöhnliche Vielfalt von Themen, Stillagen, Anspielungen und Assoziationen in dieses Konzert einzubringen, einen Reichtum also, der tatsächlich auf den ersten Blick verwirren könnte. Mit Recht sagt Prokofjew selbst darüber: „Der erste Satz jagt rasch dahin und ist in seiner Anlage hauptsächlich auf die Fingertechnik ausgerichtet“ – es handelt sich um ein toccatahaftes Perpetuum mobile –, „der zweite (Andante) entfaltet sich nicht ohne einen gelassenen Stolz; der dritte hat die Funktion eines Sonaten-Allegros (obwohl er von dieser Form abweicht); der vierte ist eine Reminiszenz an den ersten Satz, schnell, aber knapp zusammengedrängt und mit der dynamischen Vorschrift ‚piano‘ versehen.“ Die Sonderstellung des vierten Klavierkonzerts hat es nicht verdient, im Schatten des Klavierkonzerts für die linke Hand von Ravel zu stehen. Das fünfte Klavierkonzert G-dur op. 55 (in fünf Sätzen) sprengt das übliche Maß. Die Fingerakrobatik des Solisten wird aufs äußerste herausgefordert und die normative Form endgültig und für immer verlassen: Es gibt fünf miniaturhafte Sätze an Stelle der sonst üblichen drei großen Konzertsätze. Zugleich ist das fünfte Konzert eine gelassene Rückschau auf das bisher (das heißt: bis 1932) Erreichte und ein bemerkenswerter Übergang zum Spätstil Prokofjews, der sich durch die Idee einer ‚neuen Einfachheit‘ auszeichnet. So schreibt der Komponist in seinen autobiographischen Aufzeichnungen: „Ich hatte neue Vorstellungen entwickelt [...], hatte über gewisse Techniken nachgedacht [...] und schließlich hatte sich in meinen Skizzenheften auch eine Fülle bezaubernder Hauptthemen angesammelt [...] Ich strebte einerseits nach Einfachheit, aber andererseits fürchtete ich auch und vor allem, dass diese Einfachheit unversehens in eine bloße Wiederholung abgestandener Formeln umschlagen könnte, in einer Art ‚altersklapprige, baufällige Einfachheit‘, die ja bei einem modernen Komponisten wenig wünschenswert ist.“


Mit unverhohlener Ironie weist Prokofjew hiermit auf den Zwiespalt zwischen der Publikumswirksamkeit einerseits und den Forderungen, die das ‚moderne‘ Komponieren andererseits an den Komponisten stellt. Seine praktische Antwort darauf war dann eben das fünfte Klavierkonzert. Fünf kurze, aber inhaltsreiche Sätze, davon drei in toccatahafter, virtuoser Ausgestaltung und zwei – der zweite und vierte Satz – von betont lyrischer Grundhaltung, treten zu einem Ganzen zusammen. Die höchst verschiedenen musikalischen Inhalte sind so vielgestaltig, dass man dieses Konzert als eines der spannendsten überhaupt bezeichnen könnte. Häufige Stimmungs- und Haltungswechsel, bizarre Gedanken und ein stets geistreiches Konzertieren zwischen Solist und Orchester zeigen Prokofjews Kunst auf souveräner Höhe. Er spielte die Uraufführung am 31. Oktober 1932 mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler und kurz darauf auch die Erstaufführungen in Moskau und Leningrad.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.