Oratorien und Ouvertüren

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t1 Konzertführer
Robert Schumann
Oratorien und Ouvertüren

Erstaunlich spät erst näherte sich Robert Schumann (ab 1841) der großen Form in Gestalt der Chor- und Orchesterwerke. Es ist auffällig und entspricht seiner überragenden Intellektualität, dass Schumann in den Werken, die gemeinhin als Oratorien bezeichnet werden, den Gattungsbegriff sorgsam vermeidet. Das Paradies und die Peri (op. 50) veröffentlichte er unter dem Titel „Dichtung“, Der Rose Pilgerfahrt (op.112) nannte er „Märchen“ und die Faust-Vertonung firmierte unter der Überschrift Szenen aus Goethes Faust (o. 0.). Das hatte natürlich seine Gründe, denn bis ins 19. Jahrhundert hinein verband man mit dem Oratorium ausschließlich religiöse und biblische Inhalte, etwa im Sinne Händels (der in seinen mythologischen Stoffen ebenfalls zu Umschreibungen griff: The story of Semele oder Herakles, a musical drama) oder Mendelssohns. Haydns Jahreszeiten indes wurden kaum zur Kenntnis genommen, da die geistvolle Konstruktivität des großen Klassikers dem 19. Jahrhundert völlig fremd war. Der Begriff des ‚weltlichen Oratoriums‘, der bis etwa 1830 bis 1840 als Widerspruch in sich gesehen wurde, begann mit den historisch ausgerichteten Werken Carl Loewes zumindest in die Diskussion zu geraten. Schumann selbst sah im konventionell verstandenen Oratorium „eine Gattung, der Blüte schon längst vorüber ist“ und konnte mit Recht seine Peri als „beinahe ein neues Genre“ bezeichnen, das er zwar als Oratorium gelten ließ, „aber nicht für den Betsaal, sondern für heitere Menschen“; eine Formulierung, die Schumann religiöse Distanz ebenso trefflich beschreibt wie den beginnenden Bedeutungswandel der Gattung.

Das „beinahe neue Genre“ der Peri, die zwischen Februar und Juni 1843 entstand, wird wesentlich durch zwei Ebenen bestimmt. Zum einen ist es das metaphysisch angehauchte Sujet in orientalischem Kolorit, das auf den Versdichtungen des Iren Thomas Moore basiert, einem Freund Lord Byrons, der in seinem Lalla Roohk-Epos die Geschichte jenes Luftgeistes Peri erzählt, welche schuldig geworden drei Prüfungen bestehen muss, um ins Paradies zurückkehren zu können. Kein Wunder, dass bereits der junge Richard Wagner (wie er in einem Brief an Schumann schrieb) auf den Stoff aufmerksam wurde. Schumann selbst lernte die literarische Vorlage im Jahre 1841 durch seinen Jugendfreund Emil Flechsig kennen, der die Übersetzung erstellt hatte; eine Fassung, die der Komponist allerdings gründlich überarbeiten musste und sogar mit eigenen Textzutaten versah (Nr. 11, 18, 22, 25 und 26 des Werkes). Die andere Ebene gilt der Musik selbst. Kurz nach ihrer Fertigstellung schrieb Schumann: „Die Geschichte der Peri ist wie für Musik geschrieben. Die Idee des Ganzen ist so dichterisch, so rein, dass es mich ganz begeisterte.“ Das heißt nichts anderes, als dass Schumann das eigenständig Neue seines ‚Oratoriums‘ aus dem poetischen Element heraus entwickelte. Dem erzählerischen Fluss der Vorlage begegnet er mit der „Verflößung“ (Alfred Einstein) des Rezitativischen mit dem Ariosen. Die bisher getrennten Sektoren von berichtendem Rezitativ und betrachtender Arie werden außer Kraft gesetzt zugunsten eines durchweg liedhaft-lyrischen Charakters, eines einheitlichen dynamischen Zugs, der trotz der Einteilung in Nummern durchgehend trägt. Sinnfällig wird diese konstruktive Verzahnung durch das Grundmotiv der Peri (ihre Klage ‚Verstoßen! Verschlossen auf's neu‘, Nr. 20), das als Symbol fast leitmotivisch im Orchester sich durch das Werk zieht.

Ex negativo wird Schumanns experimentelle Ästhetik, die wesentlich von der dichterischen Atmosphäre her bestimmt ist, am zweiten Werk der Gattung deutlich. Das 1851 entstandene Oratorium Der Rose Pilgerfahrt bleibt, zumal wegen des süßlich-tranigen Textes, weit hinter dem bis heute noch kaum gewürdigten Wurf der Peri zurück. Die enorme Strahlkraft des Goethe‘schen Faust hingegen führte zum sicherlich bedeutendsten oratorienhaften Werk Schumanns. Das Thema prägte weite Phasen seines letzten Schaffensjahrzehnts, zwischen 1844 und 1853. Nach etlichen Skizzen aus dem Jahre 1844 entstand im April 1847 zunächst der (im endgültigen Werk) dritte und letzte Teil: Fausts Verklärung, den – allerdings ausführlicher – auch Gustav Mahler in seiner achten Symphonie verwenden sollte. Nur der ‚Chor Nr. 4‘ der „dritten Abteilung“ (‚Gerettet ist das edle Glied‘) stammt aus dem Jahre 1848. Im Jahr darauf entstand der gesamte erste Teil sowie der Beginn des zweiten. Die zwei weiteren Abschnitte dieser „Abteilung“ (Nr. 5 ‚Mitternacht‘ und Nr. 6 ‚Fausts Tod‘) ergänzten 1850 das Werk nach Schumanns Vorstellungen.

Die enorme Zeitspanne, die die Entstehung der Szenen aus Goethes Faust beanspruchten, führte zu einer Mannigfaltigkeit im musikalisch stilistischen Sinn. Während Fausts Verklärung noch am ehesten dem liedhaften ‚Ton‘ Schumanns zugeordnet werden kann, zeigen die beiden ersten Teile eine durchaus experimentelle Haltung, wie sie für seinen Spätstil typisch ist. Der Titel Szenen erhält einen unmittelbaren Sinn, da die kompositorische Vorstellung, ohne direkt ins Opernhafte zu fallen, einen zumindest imaginären Raum öffnet. Besonders deutlich wird dies in der ‚Szene im Dom‘ (1. Teil Nr. 3), die drei eigenständige, übereinander gelagerte Realitäten zeigt: Gretchen, der ‚soufflierende‘ Mephisto und der Dies irae-Chor der kultischen Handlung. Es ist auffällig, zumal wenn man Schumanns religiöse Distanz berücksichtigt, dass er etliche Abschnitte des Dramas auswählt, die geistliche Inhalte vermitteln. Allerdings, wie in der Domszene, ergibt sich damit die Möglichkeit, die polarisierten Prinzipien von Gut und Böse gleichgewichtig darzustellen.

Schumanns letzte Arbeit am Faust war die Ouvertüre von 1853, deren Konzeption ihn lange beschäftigte. Trotzdem er von der Idee einer großangelegten Fuge Abschied genommen hatte, schwingt diese in den gleichsam barocken Figurationen und harmonischen Konstellationen noch nach. Innerhalb einer verkürzten Sonatenform greift Schumann hier ‚Szenen‘-Motive auf, zumal im Seitenthema der Ouvertüre, das vom Solo des ‚Pater ecstaticus‘ und vom ‚Chorus mysticus‘ geprägt ist.
Die Faust-Ouvertüre ist gleichzeitig die letzte der großen Ouvertüren Schumanns, die ausnahmslos seiner Spätzeit angehören. Neben den Ouvertüren zu Die Braut von Messina (op.100, 1850/51), zu Shakespeares Julius Caesar (op.128, 1851) und zu Hermann und Dorothea (op. 136, 1851), gelang vor allem mit der Manfred-Ouvertüre (op.115, 1848/49) ein bedeutender Beitrag zur Gattung. Zusammen mit dem Faust zeigt sie Schumanns Begehren einer Charakterouvertüre wie in einem Brennspiegel. Seine Phantasie innerhalb des Genres entzündet sich vor allem dann, wenn, wie auch in der Manfred-Musik, ein großräumiger Zusammenhang folgt, der in Byrons Manfred aus fünfzehn Nummern einer Schauspielmusik besteht, die aus Gesang und gesprochenem Wort, also melodramatischen Elementen besteht. Die exemplarischen Konzert-Ouvertüren Beethovens und Mendelssohns werden, zumal durch die Sonatensatzanlage aufgegriffen, aber um eine Dimension erweitert. Ohne ins Programmatische zu verfallen, wird das innere Wesen des Titelhelden (in Schumanns Ouvertüren spielen stets die dramatischen Protagonisten die Hauptrolle) atmosphärisch und autonom musikalisch charakterisiert.

Strenggenommen gehört Ouvertüre, Scherzo und Finale op. 52 nicht in diese Reihe, da es sich eindeutig um eine verkappte Symphonie handelt, deren langsamer Satz fehlt. Die ursprünglichen Titel lauteten denn auch „Suite“ und „Sinfonietta“, mit denen Schumann auf den zyklischen instrumentalen Zusammenhang verweisen wollte. Das Stück entstand im ersten Orchesterjahr (1841), das ebenfalls die erste Symphonie (B-dur op. 38) und die Erstfassung der später umgearbeiteten vierten Symphonie (d-moll op. 120) hervorbrachte. Auch Ouvertüre, Scherzo und Finale, das bei der Uraufführung (6. Dezember 1841) nur mäßigen Erfolg zeitigte, wurde, zumal was den letzten Satz betraf, im Jahre 1845 einer einschneidenden Umarbeitung unterzogen.
Bernhard Rzehulka

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.