Violinkonzert D-dur op. 35 und die Kompositionen für Violine und Orchester op. 26 und op. 34

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t1 Konzertführer
Pjotr Tschaikowsky
Violinkonzert D-dur op. 35 und die Kompositionen für Violine und Orchester op. 26 und op. 34

Ist es Zufall oder hängt es mit der singulären Strahlkraft des Geigenwunders Paganini zusammen, dass gerade von der Gattung des Violinkonzerts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schier Übermenschliches erwartet wurde? Der virtuose ‚Drahtseilakt‘ des Solisten wurde ebenso vorausgesetzt wie die dichte Konstruktivität der Komposition in der Folge des Wiener klassischen Erbes. Dieser Quadratur des Kreises konnten innerhalb der zeitgenössischen Ästhetik auch jene beiden Violinkonzerte nicht gerecht werden, die sich mittlerweile zeitlos durchgesetzt haben. Warf man dem strukturell gewichtigen Werk von Johannes Brahms vor, es sei ein „Konzert gegen die Violine“ (Sarasate), so hatte Tschaikowskys Violinkonzert D-dur op. 35 noch ganz andere Tiefschläge auszuhalten. Nach der für das Werk bedeutsamen europäischen Erstaufführung am 4. Dezember 1881 (noch nicht verifizierbaren Quellen zufolge soll die Uraufführung im Jahre 1879 mit dem Geiger Leopold Damrosch in New York stattgefunden haben) schrieb der damalige Kritikerpapst Eduard Hanslick: „Friedrich Vischer behauptete einmal bei einer Besprechung lasziver Schilderungen, es gäbe Bilder, die man stinken sieht. Tschaikowsky bringt uns zum ersten Male auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könne, die man stinken hört!“ Diese schlimme Entgleisung kann kaum damit gerechtfertigt werden, dass das musikalische Wien dieser Zeit nicht eben viel von russischer Musik hielt, sie als entweder roh oder sentimental abqualifizierte. Es ist vielmehr eine unhaltbare Polemik gegen ein Werk, das zwar seine eminente Virtuosität nicht verleugnet, doch in jedem Moment die Aufrichtigkeit des Melos, das Seelentiefe offenbart.

Tschaikowsky schrieb dieses Konzert kurz nach der Vollendung seiner Oper Eugen Onegin, und der vierten Symphonie im Frühjahr 1878 in Clarens am Genfersee. Die Anwesenheit eines früheren Schülers, des Geigers Iosef I. Kotek, war insofern von großem Nutzen, als Tschaikowsky fertiggestellte Passagen des Konzerts sofort auf spieltechnische Fragen hin überprüfen konnte, Varianten erproben und mit dem Praktiker besprechen konnte. Hierin ist sicher ein Grund zu sehen für die überraschend kurze Entstehungszeit von nur drei Wochen; bereits im April des Jahres war auch die Instrumentation abgeschlossen. Dann aber entschloss sich Tschaikowsky, einen neuen langsamen Satz zu schreiben. Der ursprüngliche Mittelsatz wurde zum ersten, Meditation genannten Stück von drei Kompositionen für Violine und Klavier (Souvenir d'un lieu cher, op. 42) umgearbeitet. Über den nachkomponierten Mittelsatz, die Canzonetta, schrieb kurz darauf seine Freundin und Gönnerin Frau von Meck: „...die Canzonetta ist geradezu herrlich. Wieviel Poesie und welche Sehnsucht in diesen Sons voilés, den geheimnisvollen Tönen!“ Tatsächlich schloss Tschaikowsky mit diesem Satz unmittelbar an die Sphäre des Eugen Onegin an, namentlich an die Gefühlswelt des Melancholischen, wie sie die Figur des Lenski in sich trägt. Es ist wie ein „Lied ohne Worte“, zärtlich, schwermütig, aber gänzlich ohne jedes kitschige „Fett“, ohne Pathos, wie Hanslicks üble Worte erwarten ließen. Seelentiefe hat nichts mit Parfum zu tun! Zumal dann nicht, wenn der extrem schnelle, tänzerische Finalsatz wie mit einem Peitschenhieb übergangslos in die Gefühlsidylle einbricht. Wenn Tschaikowsky selbst das Werk (in einem Brief vom Januar 1882) als „russisch“ kennzeichnet, eine Charakterisierung, die die Substanz des Werkes meint, dann zielt das nicht nur auf die Melancholie der Canzonetta, sondern ebenso auf die rhythmischen Härten des Finalsatzes und vor allem auf den schroffen Gegensatz zwischen beiden.
Die extremen musikalischen Haltungen sind im Kopfsatz selbst bereits angelegt. Zwischen dem massiven Orchestertutti, das den ersten Teil der Durchführung beherrscht, und der verhaltenen, über weite Strecken sich piano artikulierenden Exposition scheinen Welten zu liegen. Kein anderes Konzert in dieser Zeit führt sich so gelassen und ruhig atmend ein. Die kompositorische Konstruktivität, die meisterhaft gehandhabt ist, ist in Tschaikowskys Werken nicht das entscheidende Moment, vielmehr die Ebene der emotionalen Zwischentöne und Gegensätze. So kann der Kopfsatz mit einer kurzen Orchestereinleitung beginnen, die nur assoziativ das Hauptthema berührt, nicht eigentlich artikuliert. Das bleibt dem Solisten vorbehalten.
Ursprünglich plante Tschaikowsky die Uraufführung seines Opus 35 für den 10. März 1879 in Petersburg mit dem Solisten Leopold Auer. Der jedoch hielt das Werk für unspielbar. Erst der Geiger Adolf D. Brodskij (der spätere Widmungsträger) wagte die erwähnte Wiener Aufführung unter Hans Richter und bestritt am 8. August 1882 ebenfalls die russische Erstaufführung in Moskau. Tschaikowsky war, wie er in einem Brief bekannte, „gerührt durch Brodskys Kühnheit, sich zum ersten Mal mit einem so schwierigen, neuartigen [...] Werke hervorzuwagen“.
Neben dem grandiosen Violinkonzert existieren nur noch zwei kurze einsätzige Werke für die Besetzung von Violine und Orchester: das eminent schwierige Valse-Scherzo op. 34 (Anfang 1877 komponiert und dem erwähnten Kotek gewidmet) sowie die Serenade melancholique b-moll op. 26.
Bernhard Rzehulka

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.