Symphonie Nr. 6 h-moll op. 74 (Pathetique)

Zurück
t1 Konzertführer
Pjotr Tschaikowsky
Symphonie Nr. 6 h-moll op. 74 (Pathetique)

Mit der sechsten Symphonie, der sogenannten Pathetique, findet Pjotr Iljitsch Tschaikowskys Schaffen ein jähes Ende: Denn nur drei Wochen nach der von ihm selbst dirigierten Uraufführung – sie fand am 16. Oktober 1893 in St. Petersburg statt – starb Tschaikowsky an Cholera, nachdem er versehentlich (oder auch nicht) ein Glas ungereinigten Flusswassers getrunken hatte. Es lag nahe, die unglücklichen Umstände seines Todes mit seinem letzten Werk in Verbindung zu bringen: in der ‚Todestonart‘ h-moll, im langsamen, verlöschenden Schlusssatz wie überhaupt in der schmerzlichmelancholischen Grundstimmung der Sechsten fand man nun plötzlich ‚eindeutige‘ musikalische Belege für die prekäre seelische Verfassung und die Leiden des zu Depressionen und Melancholie neigenden Komponisten. Dieser hatte ja selbst während der Komposition mehrfach davon gesprochen, dass ihn die Stimmung des Finales an ein Requiem erinnere, was nun die Legendenbildung nachhaltig förderte: Bald war man sich einig, dass diesem gewichtigen symphonischen Schlusswort ein ‚geheimes Programm‘ zugrunde liegen müsse, hatte sich doch der stets um verbale Vermittlung seines Oeuvres bemühte Tschaikowsky auch diesmal wieder, wenn auch privat, zu solchen Äußerungen hinreißen lassen. Seinem Neffen gegen über nennt er sie „eine Programmsymphonie, deren Programm für alle ein Rätsel bleiben soll“. Und: „Dieses Programm ist durch und durch von meinem eigensten Sein erfüllt, so dass ich unterwegs in Gedanken komponierend, oft heftig weinte...“

Also doch keine Programmmusik im herkömmlichen Sinn, kein festumrissenes, außermusikalisches, literarisches Programm im Sinn der Neudeutschen, das der musikalischen Struktur in Ermangelung verbindlicher Formmodelle einen vagen dramaturgischen Verlauf vorgibt? Nein, keineswegs. Wie alle früheren Symphonien Tschaikowskys ist auch die Sechste eine zwar von persönlichem Empfinden, von bildhaften Vorstellungen stark genährte, aber dennoch ‚autonome‘ viersätzige Instrumentalsymphonie. Dennoch folgt die Sechste einem von der klassischen Tradition abweichenden inneren Plan: Nach außen hin wird dies in der eigenartigen Anordnung der Sätze mit dem ‚langsamen Satz‘ am Schluss deutlich, die in der Symphonik kein Vorbild hat. Im Inneren der Symphonie stehen jetzt zwei Tanzsätze, Walzer und Scherzo – beides Nachfahren des Menuetts! –, die aber in ihrer konkreten Gestalt ihre Herkunft kaum noch erkennen lassen. Der Walzer ist zu einem unruhigen Phantasiesatz im 5/4-Takt ‚gedehnt‘ worden (Allegro con grazia), das Scherzo (Allegro molto vivace) ist ein nicht weniger phantastisch wirkender Marsch. Wichtigstes inneres Wesensmerkmal von Tschaikowskys symphonischer Ästhetik ist die subjektive Erzählhaltung der Musik, die die Vorführhaltung der klassischen Symphonie hier völlig überwunden hat. Dramatische musikalische Auseinandersetzungen finden nur noch im Inneren statt, als leidenschaftliche, nicht lösbare Konflikte der Seele, oder in der historischen Distanz der Erinnerung, als etwas bereits Geschehenes. Wir erleben nicht mehr unmittelbar vor unserem geistigen Auge, sondern erfahren durch die Gedanken, Erinnerungen, Träume eines erzählenden Subjekts vermittelt, von Ereignissen, die mitunter lange zurückliegen. Dennoch schafft es Tschaikowsky – der genuine Dramatiker –, auch auf dieser Ebene musikalische Spannungsverhältnisse aufzubauen, da er sich nicht nur auf das zu Erzählende beschränkt, sondern auch die Person des Erzählers in ihrer wirklichen psychischen und geistigen Verfassung in die Komposition miteinbringt.
Besonders sinnfällig und originell ist diese Zweizeitigkeit von Traum (Objekt) und Träumendem (Subjekt) im dritten Satz realisiert, in dem zugleich die Realität des träumenden Subjekts, also eine Fahrt im Eisenbahnwaggon (angezeigt durch das mechanisch bewegte Triolenmotiv) wie auch der Traum selbst, der Traum von einer vergangenen Festlichkeit (im Marschthema) erfasst ist, und zwar in einer der Wirklichkeit das Tagträumens durchaus entsprechenden Weise: Die äußere Realität der gleichmäßig-monotonen Bewegung des fahrenden Zuges wird im Verlauf des Satzes mehr und mehr von der allmählich stärker ins Bewusstsein dringenden Erinnerung des Festmarsches überdeckt und schließlich von dieser inneren Wirklichkeit ganz verdrängt. Das Ganze ist als schrittweise räumlich-zeitliches Näherrücken des Marsches auskomponiert, dessen eigentlichen Beginn Tschaikowsky mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln kunstvoll und spannungsträchtig hinauszögert, so dass erst nach 228 Takten (!) der Marsch erstmals in seiner prächtigen Grundgestalt erklingt.

Auch der metrisch eigenartige, zwischen geradem und ungeradem Takt hin und her schwankende zweite Satz der Sechsten ist nichts anderes als eine Erinnerung, die verzerrte, dunkle und wehmütige Erinnerung an einen längst verklungenen festlichen Walzer, der eben in der verblassenden Erinnerung seine metrischrhythmische Identität, den kreisenden Walzerrhythmus, verloren hat und daher bereits in seinen Grundfesten bedroht ist. Siebenundzwanzig Jahre vor Ravels La Valse kündigen sich hier schon die ersten Signale des Untergangs an, vom Walzer und seiner Gesellschaft.

In dem äußerst bewegten Kopfsatz erleben wir zuvor den grandios bis zu seinem bitteren Ende auskomponierten Konflikt zwischen der leidvollen, zur Resignation zwingenden Gegenwart (im Hauptthema) und (erneut) der schmerzlich-schönen Erinnerung an vergangene, glücklichere Zeiten (im Seitenthema). Da aber die Musik keinerlei in die Zukunft gerichtete Hoffnung ausspricht, keine Utopie mehr kennt, kann es für das innerlich zerrissene, harmonisch labile Hauptthema, das weder Anfang noch Ende besitzt, auch keine befriedete Reprise im Sinn der klassischen Ästhetik mehr geben, zumal auch in der Durchführung dem dreimaligen schmerzlichen Sich-Aufbäumen des Hauptthemas der totale Zusammenbruch folgte; die Reprise bleibt auf das Seitenthema beschränkt, auf das nochmalige Ins-Bewusstsein-Rufen der schönen, aber für immer vergangenen Erinnerung, einer Gestalt, die wie das Ende eines Themas wirkt, dessen Anfang wir nie zu hören bekommen. Das Finale bringt Tschaikowskys neue Konzeption am deutlichsten zum Tragen: Er verzichtet hier zum ersten Mal auf die (von ihm selbst bis zur Fünften praktizierten) Tradition des optimistischtriumphierenden Schlusses und entgeht so seiner eigenen Neigung zu bombastischer Schlussherrlichkeit. Stattdessen zwei riesige Steigerungswellen eines unheilvoll abwärts gerichteten Themas (das zuvor in allen Sätzen auftauchte), also zwei vergebliche Versuche, dem drohenden Ende auszuweichen, und schließlich bittere Resignation, die sich auch in hässlichen Tönen (wie dem gestopften tiefen Fis in den Hörnern) äußert und in einem schrägen, nicht sehr christlichen Choral das endgültige Verlöschen des Lebensnervs ankündigt. Damit verzichtet Tschaikowsky zum ersten Mal auf die Restitution des ‚schönen Scheins‘, einer fragwürdig gewordenen Heiterkeit, und riskiert ein realistisches, ästhetisch offenes, subjektiv wahrhaftiges Schlusswort.
Attila Csampai

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.