Symphonie Nr. 2 c-moll op. 17 (Kleinrussische)

Zurück
t1 Konzertführer
Pjotr Tschaikowsky
Symphonie Nr. 2 c-moll op. 17 (Kleinrussische)

Seine zweite Symphonie in c-moll komponierte Tschaikowsky im Sommer 1872, kurze Zeit nach dem Abschluss seiner dritten Oper Der Opritschnik, während eines Aufenthalts im ukrainischen Dörfchen Kamenka. Zu jener Zeit befasste sich Tschaikowsky intensiv mit ukrainischer Volksmusik, die er an Ort und Stelle sammelte und notierte. So finden sich in keinem anderen Orchesterwerk Tschaikowskys eine derartige Fülle von russischen Themen – von originalem Volksliedgut und von frei nachempfundenen volksliedartigen Intonationen. Das gleich zu Beginn der Symphonie vom ersten Horn vorgetragene Hauptthema des Kopfsatzes etwa stammt aus dem allgemein bekannten Wolgalied, während das Variationenthema des Schlusssatzes oder auch die kurze Triomelodie im dritten Satz auf ukrainischen Volksliedern basieren. Im zweiten Satz, einem seltsam verhaltenen Marsch, den Tschaikowsky fast unverändert aus seiner vernichteten Oper Undine herübernahm, hat er im Seitenthema in eigener Invention eine volksliedartige Gestalt nachgebildet. Dieses ‚Übergewicht‘ volkstümlicher Thematik und statischer Variationstechnik trug der Zweiten von Anfang an den Vorwurf ein, ‚unsymphonisch‘ und eben nicht ernst genug zu wirken. Manche meinten sogar, es wäre besser gewesen, wenn der Komponist sie als ‚Suite‘ bezeichnet hätte. Andere warfen Tschaikowsky vor, er wolle sich damit beim

‚Mächtigen Häuflein‘, dem Petersburger Komponistenkreis um Rimskij-Korsakow, anbiedern. Niemand wollte dem „Westler“ Tschaikowsky so recht den ‚russischen Ton‘ abnehmen. Gleichwohl verbirgt sich hinter allem volkstümlich-lockeren Gebaren eine nach allen Regeln streng gebaute Symphonie. Der erste Satz enthält sogar drei kontrastierende thematische Gedanken, die alle korrekt symphonisch weiterverarbeitet werden. In den Sätzen zwei bis vier wird die Annäherung Tschaikowskys an klassische Vorbilder sogar konkret greifbar. Alle drei Sätze beziehen sich auf Beethovens Eroica.
Im zweiten Satz ist diese Beziehung noch eher vage, beschränkt sich lediglich auf die Vorstellung des Marschierens und einer am Betrachter vorbeiziehenden Menschenmenge. Deutlicher wird das geistige Vorbild Eroica im Scherzo: Hier greift Tschaikowsky nicht nur die mechanisch-gleichförmige, maschinenhafte Bewegung des Beethovenschen Scherzo auf – er notiert in Achtelwerten, was sich bei Beethoven in Viertelnoten genauso schnell ereignet –, sondern auch der Duktus, die rhythmisch-metrischen Finessen des Vorbildes sind in Tschaikowskys eigener Musiksprache kunstvoll nachgebildet. In der harmonischen Gestaltung des Satzes geht Tschaikowsky seine eigenen Wege und sucht die Distanz zu Beethoven. Beethovens diatonische Strenge ist in die labile, stark erweiterte Harmonik des späten 19. Jahrhunderts getaucht. Die markigen, kräftigen, gegenwärtigen Tanzgestalten Beethovens sind in die Vergangenheit einer Erinnerung gerückt, sie existieren, schattenhaften Traumgestalten gleich, nur noch in der Phantasie, sie werden phantastisch, geisterhaft, romantisch.

Und schließlich ist auch der mächtige Finalsatz dem Variationenfinale der Eroica verpflichtet. Auch Tschaikowsky beginnt diesen Satz mit einer feierlichen Eröffnungsgeste, einem symphonischen Tusch, wobei er das Variationenthema zunächst in seiner authentischen Gestalt, im typisch russischen Choralsatz, vorstellt, um es gleich darauf auf sein absolutes Minimum zu reduzieren und von hier aus durch sukzessives Hinzufügen von neuen Stimmen den Variationenzyklus aufzubauen. Was sich aber bei Beethoven als artifiziell ausgeklügeltes Baumaterial darstellt, ist hier von Anfang an lebendige, gewachsene Substanz, eine Volksweise eben, die es weniger zu entwickeln, als kunstvoll auszuschmücken und von verschiedenen Seiten zu beleuchten gilt. Zugleich haben wir es aber auch hier mit einem regelrechten Sonatensatz zu tun, mit einem Seitenthema und einer harmonisch trickreichen Durchführung, die in die Grenzbereiche des damals ‚Erlaubten‘ vorstößt: Ja, Tschaikowsky wagt hier kühn einen Schritt ins 20. Jahrhundert. Die ‚falschen‘ Fortschreitungen, die etwa das Seitenthema mehrfach mit sanfter Gewalt in die nächsthöheren Mediante zwingen, sind ihrer Zeit weit voraus: Vierzig bis fünfzig Takte lang meint man eher in einem Stück von Prokofjew zu sein als in einer frühen Tschaikowsky-Symphonie.
Attila Csampai

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.