Die vier Orchestersuiten

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t1 Konzertführer
Pjotr Tschaikowsky
Die vier Orchestersuiten

Von den vier Orchestersuiten, die Tschaikowsky zwischen 1878 und 1887, in der symphonischen Schaffenspause zwischen der Vierten und der Fünften, komponierte, konnte sich lediglich die letzte, die sogenannte Mozartiana, im Repertoire einen bescheidenen Platz ergattern. Die ersten drei Suiten, die auf keinerlei musikalische Vorbilder zurückgreifen, sind heute so gut wie vergessen. Dabei sind sie alles andere als Lückenbüßer, sondern das Experimentierfeld, auf dem Tschaikowsky die besonderen Merkmale und den Charakter seines symphonischen Spätwerks vorbereitet. Zugleich unternimmt Tschaikowsky hier den eigenwilligen Versuch, die Konzeption der spätbarocken Suite mit der entwickelten symphonischen Satztechnik seiner Zeit zu kombinieren, also eine auf stilisierten Tanztypen basierende alte musikalische Form zu aktualisieren, indem er sie mit romantischem Geist, mit russischem Lokalkolorit und natürlich dem Walzer, dem führenden bürgerlichen Tanz, anreichert. Das Resultat könnte man als geglückte Melange aus Symphonie und Ballettmusik bezeichnen, als symphonische Ballette ohne Handlung, die, wie schon die früheren Symphonien Tschaikowskys, von außermusikalischen Assoziationen, von Bildern, Gedanken, Erinnerungen geprägt sind.

Die sechssätzige erste Suite in d-moll op. 43 (1878/79) orientiert sich neben konkreten barocken Vorbildern der Fuge und der Gavotte auch am klassischen Modell des Mozartschen Divertimento, wobei Tschaikowsky nur dessen zyklische Grundidee übernimmt, mit zwei Menuettsätzen, Kopfsatz und Schlussrondo und – freilich nur einem langsamen Satz. Und auch diese Grundgestalt ist den aktuellen musikalischen Verhältnissen angepasst. Im Divertimento-Satz hat ein bürgerlicher Walzer den Platz des ehemaligen höfischen Menuetts eingenommen, während an Stelle des zweiten Menuetts ein geradtaktiges russisches Scherza tritt. Der mit einer langsamen Einleitung versehene Kopfsatz weckt eher allgemeine Assoziationen an die Barocksuite, da Tschaikowsky hier, ganz entgegen seiner sonstigen Art, den Satz Bachscher Fugen nachahmt. Bei der Gavotte, dem Schlusssatz, mag Tschaikowsky ebenfalls an Bach gedacht haben und an dessen berühmte G-dur-Gavotte aus der fünften Französischen Suite: er trifft genau den Giocoso-Charakter des alten französischen Springtanzes. Zugleich ist dieser Satz auch eine der modernsten Kompositionen Tschaikowskys und gibt einen Vorgeschmack auf den späteren Neoklassizismus. Es ist der würdige Vorfahr (und wohl auch das geheime Vorbild) des vierzig Jahre später komponierten Gavota in Prokofjews Symphonie classique.

Anordnung und Charakter der fünfsätzigen zweiten Suite op. 53 aus dem Jahre 1883 sind der ersten Suite ähnlich, wenngleich sich Tschaikowsky hier von der älteren Suiten-Tradition vollends gelöst hat. Das belegt bereits der Kopfsatz mit dem schönen Titel ‚Jeu de sons‘, der trotz seines stark fugierten Hauptteils eindeutig Entwicklungscharakter aufweist, also romantischen Ideen folgt statt dem Abwicklungsprinzip der alten Fuge, einem dramatischen Höhepunkt zusteuert und auf diesem plötzlich abbricht. Im Scherzo burlesque, dem Mittelsatz, schlägt Tschaikowsky wiederum einen bäuerlich-volkstümlichen Ton an. Diesmal ist eine feuchtfröhliche Wirtshausszene im Gange, die im ungewohnten Auftritt von vier Akkordeons gipfelt, die der Komponist ganz ungeniert mit dem ernsthaften Symphonieorchester koppelt. Das Trio dagegen, das mit Mussorgskyscher Vehemenz in den Hauptsatz einbricht, gleicht einer Szene auf einem russischen Bauernhof. Betont ‚russisch‘ geht es auch im Schlusssatz weiter, der Alexander Dargomyschsky gewidmet ist, einem der Väter der nationalrussischen Kunstmusik. Gleichwohl hielt ihn Tschaikowsky für einen Dilettanten.

Bei der dritten Suite in G-dur op. 55 (1884) treten Charakteristika und Machart einer Symphonie immer deutlicher in den Vordergrund. Gleichzeitig findet auch in der musikalischen Haltung ein deutlicher Sinnenwandel statt, da Trauer, Resignation und Depression sich in allen (vier) Sätzen ausbreiten und den gedämpften Optimismus der beiden ersten Suiten vergessen lassen. Beim ‚Valse melancholique‘, dem zweiten Satz, ist die Gattung kaum noch wiederzuerkennen, denn dieser Walzer ist so verstört, dass er nicht einmal zu seinem eigenen wiegenden Grundrhythmus findet. Das Scherzo gleicht einer verzerrten italienischen Tarantella, in die Bruchstücke eines entfernt erklingenden Marsches eingestreut sind. Die Mittelsätze der sechsten Symphonie kündigen sich hier bereits an.

Die vierte Orchestersuite op. 61 in G-dur, komponiert im Herbst 1887, anlässlich der hundertjährigen Wiederkehr der Prager Uraufführung von Don Giovanni, ist Tschaikowskys Huldigung an Mozart. Die Besonderheit der Mozartiana, liegt darin, dass Tschaikowsky hier lediglich Mozartsche Klavierstücke instrumentierte. Mit Ausnahme der Preghiera, der Franz Liszts Klaviertranskription der Motette Ave verum corpus, zugrunde liegt, verwendete Tschaikowsky originalen Notentext von Mozart und ließ ihn kompositorisch unangetastet. Gigue und Menuet basieren auf zwei gleichnamigen späten Klavierstücken Mozarts, die Tschaikowsky wegen ihrer Brillanz und Modernität besonders schätzte, dem abschließenden Variationensatz liegen die Klaviervariationen Unser dummer Pöbel meint (KV 455) nach einem Thema von Gluck zugrunde. Außer einigen wenigen klanglichen Füllseln hat Tschaikowsky auch hier nicht in die Komposition eingegriffen, sondern sie nur in seine orchestrale Farbenpracht getaucht. Und dennoch gibt es eine Reihe von Stellen, die so ‚romantisch‘ klingen, dass man zweifeln möchte, ob das alles wirklich so von Mozart gesetzt wurde. Aber gerade der Eindruck, es könnte etwas von Tschaikowsky sein, was dann doch purer Mozart ist, spricht für die Qualität der Bearbeitung. Es gibt wenige vergleichbare Beispiele einer derart geglückten romantischen Aneignung von klassischer Musik.
Attila Csampai

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.