Ballettsuiten

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t1 Konzertführer
Pjotr Tschaikowsky
Ballettsuiten

Zu allen drei ‚klassischen‘ Handlungsballetten Tschaikowskys, also sowohl zu Schwanensee op. 20 (1876), Dornröschen op. 66 (1889) und Der Nussknacker op. 71 (1892) gibt es Orchestersuiten, die der Komponist nach rein musikalischen Gesichtspunkten: des Effekts, der Instrumentationsvielfalt, des Kontrastes, zusammenstellte. In allen drei Fällen geben die Suiten freilich nur einen Bruchteil der umfänglichen Ballettpartituren wieder, so dass man sie bestenfalls als musikalische Appetitanreger zu den Balletten bezeichnen könnte. Gleichwohl haben sich die drei Suiten inzwischen einen so festen Platz im Konzertrepertoire sichern können, dass man sie zu den Standardwerken zählen muss, den Balletten an Breitenwirkung weit überlegen. Während die Orchestersuiten aus Schwanensee und Dornröschen, wie üblich, erst nach der Premiere des jeweiligen Balletts in den Konzertsaal gelangten, erklang die Nussknacker-Suite bereits neun Monate vor der (erfolglosen) Ballettpremiere im März 1892 erstmals im Konzert und verbuchte auf Anhieb einen überwältigenden Erfolg: Fast alle Sätze der Suite mussten wiederholt werden. Und bis heute hat die instrumentale Kurzfassung das gesamte Bühnenwerk, das freilich schwierig zu realisieren ist wegen zahlreicher Kinderrollen, in den Hintergrund gedrängt. Sie ist in der Tat ein höchst gelungener Extrakt der mitunter recht bizarren Märchenromantik der Balletthandlung und auch des zugrundeliegenden Stoffs, der von E.T. A. Hoffmann stammt. Darüber hinaus belegt sie eindringlich das hohe Niveau von Tschaikowskys Instrumentationskunst in jenem vorletzten Jahr seines Lebens, seinen Geschmack und seine Sensibilität für ungewöhnliche Mischungen. So ist bereits die Suite (und Ballett) eröffnende ‚Miniatur-Ouvertüre‘ ein Meisterstück Tschaikowskyscher Finesse und der geglückte Versuch, das Instrumentarium eines Symphonieorchesters in eine Spieldose zu stecken, so wie es Tschaikowsky schon einmal früher, im ‚Miniatur-Marsch‘ seiner ersten Orchestersuite exerzierte. Das Ganze ist eine brillante Diskantstudie eines kindlichen, noch vor dem Stimmbruch befindlichen Symphonieorchesters. Nach einem schneidigen ‚Marsch‘, der das Orchester wieder in Normalstimmung zurückführt, folgt, mit dem ‚Tanz der Fee Dragee‘, eine weitere raffinierte Miniatur Tschaikowskys. Die bukolisch-abgründigen Tiefen einer Bassklarinette sind hier mit dem himmlischen Glöckchenzauber einer Celesta, eines damals gerade neu entwickelten Instruments, gekoppelt. Danach geht es in die weite Welt fremdartiger Tänze der Russen, Araber und Chinesen, den ein exotischer ‚Tanz der Rohrflöten‘ – mit einem akkordisch gesetzten Flöten-Terzett – abschließt. Am Ende der berühmte ‚Blumenwalzer‘, eine sanft wiegende und doch leidenschaftliche Hommage Tschaikowskys an den Wiener Walzer.

Attila Csampai

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.