Instrumentalkonzerte, Hindemith

Zurück
t1 Konzertführer
Paul Hindemith
Instrumentalkonzerte, Hindemith

Das Instrumentalkonzert ist die einzige Gattung, die Hindemith in allen seinen kontinuierlich fortschreitenden oder schroff wechselnden Schaffensperioden bedachte; entsprechend vielgestaltig, heterogen stellt sich diese Gruppe von insgesamt 21 Werken dar. Ein ‚Idealtypus‘ des Hindemith‘schen Konzerts kann kaum beschrieben werden. Zudem vermeidet Hindemith jeden Schematismus. Kein Werk ist in der gleichen Form gestaltet. Gerade die Werke, die Hindemith – wie die Kammermusiken (1924 bis 1927), die Konzertmusiken (1929 bis 1930) oder die Bläserkonzerte (1947 bis 1949) – in Serie komponiert, sind formal und ausdrucksmäßig extrem individualisiert. Und schließt Hindemith an traditionelle Formen oder Satztypen an, so erfüllt er den musikalischen Prozess mit einer Musizierlust, die oft abenteuerliche, verstiegene, ja überdrehte Züge annehmen kann, während er wiederum die Konzerte, die einen traditionellen Habitus tragen, in ganz ungewöhnlichen, singulären, unwiederholbaren Formdispositionen ausführt. Weiter gliedern sich die Konzerte völlig unterschiedlich in sein Oeuvre ein: Die Kammermusiken repräsentieren etwa paradigmatisch die neue Musik Hindemiths der zwanziger Jahre; sie stehen im Zentrum seines damaligen Komponierens, während er die Bedeutung der Konzertmusiken hinter seiner gleichzeitig geschriebenen ‚Gebrauchsmusik‘ für Laien und Liebhaber zurückstuft. Die Holzbläserkonzerte repräsentieren nur reizvolle Nebenwerke, hingegen bündelt das Orgelkonzert (1962) als ein ausgesprochenes Spätwerk auseinanderstrebende Tendenzen seines Schaffens. Darüber hinaus sind diese Werke unmittelbar mit seiner Biographie verknüpft: Die Bratschenkonzerte schrieb Hindemith, der als einer der führenden Bratscher seiner Zeit galt, für seine eigenen Zwecke, und ein Werk wie die Kammermusik Nr. 5 wurde geradezu als ein musikalisches Selbstporträt aufgefasst. Im Bratschenkonzert Der Schwanendreher (1935) spielt Hindemith auf seine Situation im Nazi-Deutschland an, im Konzert für Holzbläser, Harfe und Orchester (1949) bezieht er sich liebevoll auf ein privates Ereignis, und das Hornkonzert (1949) bzw. das Orgelkonzert tragen direkte bzw. indirekte programmatische Züge. So ermöglichen gerade die Konzerte Hindemiths umfassende Einblicke in die Weite und den Gehalt seines Oeuvres.

Das symphonisch durchgearbeitete Cellokonzert op. 3 (1915), das erste Konzert des neunzehnjährigen Hindemith, der sich noch nicht als Komponist verstand, unterliegt ganz dem Einfluss der Musik der Jahrhundertwende. Das Verhältnis von Solostimme und Orchester hat Hindemith dem Kopfsatz des Brahms‘schen Violinkonzerts nachgebildet, der zweite Satz orientiert sich an der Ausdruckswelt von Instrumentalstücken aus Wagners Musikdramen – vor allem am ‚Karfreitagszauber‘ aus Parsifal –, während das unmittelbar anschließende Finale den Charakter einer Tarantella trägt, die Hindemith thematisch auf den Kopfsatz zurückbezieht. Der Abstand zwischen diesem Cellokonzert und der Reihe der Kammermusiken kann kaum groß genug gedacht werden. Allerdings geht den Kammermusiken noch ein Konzert für Klavier linke Hand und Orchester op. 29 (1923) voran, das Hindemith für Paul Wittgenstein schrieb. Dieser hat jedoch das Konzert nie gespielt; es blieb bis heute unaufgeführt, liegt in Wittgensteins Nachlass und wird der interessierten Öffentlichkeit vorenthalten. In den Kammermusiken, zu denen ein Klavierkonzert (Kammermusik Nr. 2 op. 36 Nr. 1, 1924), ein Cellokonzert (Kammermusik Nr. 3 op. 36 Nr. 2, 1924), ein Violinkonzert (Kammermusik Nr. 4 op. 36 Nr. 3, 1925; 1951 überarbeitet), ein Bratschenkonzert (Kammermusik Nr. 5 op. 36 Nr. 4, 1927), ein Viola d'amore-Konzert (Kammermusik Nr. 6 op. 46 Nr. 1, 1927; 2. Fassung 1930) und ein Orgelkonzert (Kammermusik Nr. 7op. 46 Nr. 2, 1927) zählen, hat Hindemith zu seiner unverkennbaren Tonsprache gefunden. Die Bezeichnung dieser Konzerte als ‚Kammermusik‘ leitet sich von der außerordentlich individualisierten, stets solistischen Orchesterbesetzung, die als erweitertes Kammerensemble, aber nicht als reduziertes Orchester aufzufassen ist, und von der kammermusikalischen Satztechnik her. Grundlage der Satztechnik ist die „lineare Polyphonie“; die Harmonik ergibt sich aus der Stimmführung und dient der Kontrolle. Stets dominiert ein charakteristischer rhythmisch-metrischer Bewegungstyp der Musik, der den Werken einen unmittelbar treibenden Zug verleiht, zu dem der überbordende Impetus des Spielens hinzutritt. Die Musik scheint sich stets zu erneuern; die Werke schließen denn auch nicht in einem nachdrücklichen Sinn, sondern sie brechen ab oder verflüchtigen sich und scheinen weiterzuklingen, ohne dass wir sie noch hören könnten. In der solistischen Kammerorchesterbegleitung, die nichts Schwelgerisches mehr kennt, in den reihenden Formverläufen, die jedwede ‚Entwicklung‘ konsequent aussparen, im draufgängerischen Impetus des Spielens, der keine sinnliche Süße mehr zulässt, in den Momenten der Parodie, in der Akzentuierung der rhythmisch-metrischen Verhältnisse und der kontrapunktisch-kammer-musikalischen Satztechnik bilden diese Kammermusiken einen Konzerttypus aus, der die Neue Musik der zwanziger Jahre – nennt man sie nun Neobarock, Neoklassik oder neue Sachlichkeit – paradigmatisch repräsentiert.

Hindemith hat die Kammermusiken in der Reihe der Konzertmusiken, zu denen als ausgesprochene Konzerte die Konzertmusik für Bratsche und größeres Kammerorchester op. 48 (zwei Fassungen, 1929 bis 1930) und die Konzertmusik für Klavier, Blechbläser und zwei Harfen op. 49 (1930), aber auch das Konzertstück für Trautonium und Streichorchester (1931) zählen, durch Vereinfachung differenziert und weiterentwickelt. „Die neoklassizistische Haltung ist geblieben, aber einer kompositionstechnischen Kritik unterstellt, die sie aufs äußerste differenziert und die Macht des vorgezeichneten Schemas bricht“, fasst Adorno über Opus 48 zusammen. Das Kammermusikalische wird ins Konzertante gewendet und gewinnt an Schlagkraft und Übersichtlichkeit. In Opus 49 zitiert Hindemith erstmals sogar ein altes Volkslied.
‚Konzertmusik‘ meint zudem im Kontext des Hindemith‘schen Komponierens: ‚Gebrauchsmusik‘ für Virtuosen. Zur Reihe der Konzertmusiken könnte auch noch das Bratschenkonzert Der Schwanendreher (1935, auch die Trauermusik für Bratsche und Streichorchester, 1936, trägt konzertante Züge) gezählt werden, das in der durchgängigen Verwendung von alten Volksliedern den Prozess der Vereinfachung konsequent weiterführt. Freilich verbindet Hindemith die Verwendung von Volksliedern mit der Darstellung seiner prekären Situation im Nazi-Deutschland und seinen Emigrationsplänen. Das Lied Zwischen Berg und tiefem Tal ist ein Lied des Abschieds und Schmerzes; der „Gutzgauch“ (Kuckuck) aus dem Lied Der Gutzgauch auf dem Zaune saß ist in der alten Volkspoesie der Verhöhnte und Ausgestoßene. Aus dem Lied Nun taube, Lindlein, taube legt Hindemith in die Solobratsche ausschließlich die Liedzeilen mit den Worten „Nicht länger ich‘s ertrag“ bzw. „Hab‘ gar ein traurig Tag“. Und der ‚Schwanendreher‘ ist eine Bezeichnung für den heimatlosen Spielmann, den Musikanten, als welchen Hindemith sich selber gern bezeichnet hat. Das Violinkonzert (1939) und das Cellokonzert (1940), denen noch das Klavierkonzert (1945) nachfolgt, sind dann Werke aus dem Exil. Das erweist sich sofort an ihrem nunmehr traditionellen Habitus, der unmittelbar den ‚großen‘ Konzerten des 19. Jahrhunderts entlehnt ist und den Hindemith freilich durch einen intensiven Lyrismus und eine höchst originelle Formdisposition individualisiert: Der Mittelsatz des Cellokonzerts umfasst einen langsamen und eine scherzoartigen Teil, die dann überraschenderweise simultan gespielt werden, oder der Schlusssatz des Klavierkonzerts ist als eine Folge von Charaktervariationen über den mittelalterlichen Tanz Trefontane ausgeführt, der in seiner originären Form allerdings erst zum Schluss des Werkes gespielt wird. Zudem bringt Hindemith das Soloinstrument und das begleitende Orchester in ein Verhältnis, das – wie John Cage beschrieb – programmatisch interpretierbar ist: Im Cellokonzert seien „musikalische Beziehungen auch Beziehungen zwischen den Menschen... Besonders klar wird dies im letzten Satz, wo das Orchester sich martialisch aufspielt, während das Cello für sich bleibt und abseits, poetisch, und nicht marschiert, da es nun einmal einen anderen Standpunkt vertritt. Das Cello behauptet den Standpunkt des Individuums mit wachsender Intensität, und dies bis zum letztmöglichen Augenblick. Danach scheint es klar, dass zwischen Wahnsinn und Anpassung zu wählen ist.“

Dass es sich bei diesen drei Konzerten um Arbeiten handelt, die in bitterster Zeit im Exil entstanden, bestätigen im Nachhinein die Bläserkonzerte, die Hindemith 1947 bis 1949 komponierte und die eher den spielerisch-gelösten Ton der Konzertmusiken aufgreifen und auf einem anderen Niveau fortführen. Zu dieser Werkgruppe zählen ein Klarinettenkonzert (1947), das Benny Goodman bestellte, ein Hornkonzert (1949), in dessen Zentrum eine rezitativische Partie steht, welche eine rein instrumentale Vertonung eines Gedichts von Hindemith darstellt, ein sich an der vorklassischen Sinfonia concertante orientierendes Konzert für Holzbläser, Harfe und Orchester (1949), in dem Hindemith im Finalsatz mit einem Zitat aus Mendelssohns ‚Hochzeitsmarsch‘ seine Frau zur silbernen Hochzeit überraschte, sowie ein knappes, seltsam harsches Konzert für Trompete, Fagott und Streichorchester (1949), das Züge seiner späteren Entwicklung antizipiert. Zu diesem Spätwerk, das Hindemith seit etwa 1958 zu komponieren begann, rechnet dann das Orgelkonzert (1962). Ideelles Zentrum dieses Konzerts ist der alten Hymnus Veni Creator Spiritus, auf den sich alle Themen des viersätzigen Werkes immer ausgeprägter beziehen und der dann im Schlusssatz endlich hervortritt und sogleich die unterschiedlichsten Ausdruckscharaktere hervortreibt. Einheit und Differenzierung, Tradition und Verwandlung von Tradition in etwas Persönliches als latente Grundprinzipien der Hindemith‘schen Konzerte treten in diesem letzten Konzert, einer Komposition über das Finden und Erfinden von Musik, als Werkidee unmittelbar nach außen.
Giselher Schubert

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.