Olivier Messiaen

Zurück
t1 Konzertführer
Olivier Messiaen
Olivier Messiaen

Avignon, 10. Dezember 1908 – Paris, 28. April 1992

1945. Das letzte Kriegsjahr. Das Todesjahr Béla Bartóks und Anton von Weberns. Stunde Null einer neuen musikalischen Zeitrechnung, die zunächst einmal „durch den Versuch gekennzeichnet war, an die abgebrochene Tradition der zwanziger Jahre – die sich als kulturelle Epoche von 1918 bis 1933 erstreckten – wieder anzuknüpfen und die Katastrophen der ‚Zwischenzeit‘ aus dem musikgeschichtlichen Bewusstsein zu verdrängen“ (Carl Dahlhaus). Die Tradition der zwanziger Jahre aber war ihrerseits in vielem eher retrospektiv als progressiv gewesen, und schon 1939 hatte Igor Strawinsky – der mit seiner Symphony in Three Movements (1942 bis 1945) gleichsam den Archetypus dieser Ästhetik geschaffen hat – in seinen Harvard-Vorlesungen zur Musikalischen Poetik erklärt: „Die wahre Tradition ist nicht Zeuge einer abgeschlossenen Vergangenheit; sie ist eine lebendige Kraft, welche die Gegenwart anregt und belehrt. [...] Weit davon entfernt, die Nachahmung des Gewesenen zu bedeuten, setzt die Tradition die Realität des Dauernden voraus.“ Manche freilich standen diesem musikalischen Historismus (von dem sich auch Strawinsky notabene später distanzierte) skeptisch gegenüber; so wendet sich Arnold Schönberg in einem Brief (an William Schlamm, 26. Juni/1. Juli 1945) ganz entschieden gegen die aktuelle Tendenz, „in steriler Weise die Vergangenheit der Musik zu erforschen. Dagegen ist die Theorie der musikalischen Komposition nicht nur Grammatik, Syntax und Philologie der musikalischen Sprache, sondern lehrt, als Wichtigstes, die Organisierung musikalischer Formen. [...] ‚Neuer Wein in alten Schläuchen‘ ist bei mir äußerst unbeliebt.“ Sicher standen Strawinsky und Schönberg mit ihren musikalischen Vorstellungen nicht allein, doch in der Gegensätzlichkeit ihrer Ästhetik repräsentieren sie die beiden Pole, zwischen denen die Musik nach 1945 ihren Weg suchen musste – eine Musik, die in den zwölf Jahren des nationalsozialistischen Terrors ihre Identität verloren hatte. Tradition? Schönberg, dessen Lehre der ‚Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen‘ im Vorkriegseuropa lediglich bei einem kleinen Kreis von Musikern Beachtung und Nachahmung gefunden hatte, war 1933 in die Vereinigten Staaten emigriert, Strawinsky 1939. Die Komponistengeneration der „Zwischenzeit“ aber „verstand die Bedeutung eines Schaffens nicht mehr, das ihr weithin unbekannt blieb. [...] Wir können weder in Strawinsky noch in Schönberg den ‚Propheten‘ sehen – eine Religion, welche Standarte sie auch aufpflanzt, bedeutet immer ein Armutszeugnis“ (Pierre Boulez: Trajectoires, 1949).
Am 3. Juni 1936 hatte in der Pariser Salle Gaveau ein Orchesterkonzert stattgefunden, mit dem sich eine Gruppe von vier jungen Komponisten dem Publikum vorstellte; ihr erklärtes Ziel war es, „mit neuen Mitteln eine neue und kühne Ausdruckswelt zu erschließen und Werke zu verbreiten, die jugendlich, frei und von revolutionären Parolen ebenso weit entfernt sind wie von akademischen“. In Anlehnung an ein Wort Hector Berlioz‘ nannten sich die vier ‚La Jeune France‘ (‚Das junge Frankreich‘): Yves Baudrier, Jean-Yves Daniel-Lesur, André Jolivet und Olivier Messiaen.

1945 war die Gruppe längst zerfallen, und nur Messiaen, der von Anfang an der eigenwilligste und radikalste Exponent der ‚Jeune France‘ gewesen war, war seinem Weg als Komponist konsequent gefolgt; mit dem Orgelzyklus Les Corps glorieux (1939), dem Quatuor pour la fin du Temps (1941), den Visions de l’Amen (1943) für zwei Klaviere, den Trois petites Liturgies de la Présence Divine (1944) und den Vingt Regards sur l’Enfant Jésus (1944) hatte er zu einer ebenso eigenständigen wie neuartigen musikalischen Sprache gefunden. Ihre ästhetischen und kompositionstechnischen Grundlagen, die der Komponist selbst in dem Traktat Technique de mon langage musical (1944) dargestellt hat, beruhen auf einem (nur scheinbar eklektizistischen) Vokabular, das von den verschiedensten Traditionen zehrt und daher keiner wirklich zuzuordnen ist. Messiaens Musik ist ebenso der Gregorianik verpflichtet wie der Klangwelt javanischer Gamelan-Orchester, verbindet die Metrik griechischer Versmaße mit den Skalen indischer Ragas, strukturiert die Quint- und Quartschichtungen der Harmonik Debussys und Skrjabins nach seriellen Prinzipien um und überträgt den Gesang der Vögel in die präzise Notation einer Orgel-, Klavier- oder Orchesterpartitur. Die Ordnung aber, nach der Messiaen diese so unterschiedlichen und gegensätzlichen Sprachmuster miteinander verknüpft, ist die einer religiös-mystischen Kosmogonie, in deren ekstatischem Erleben abendländischer Katholizismus und fernöstliche Geisteswelt zusammenfließen.
Schon Messiaens erstes gültiges, 1930 komponiertes Orchesterwerk, Les Offrandes oubliées, gehorcht dieser Ordnung: „Die Sünde ist das Vergessen Gottes und seiner göttlichen Opfer, des Kreuzes und der Eucharistie. Du liebst uns, süßer Jesus, und wir haben es vergessen.“ Ebenso typisch wie dieses theologische Programm ist auch die musikalische Sprache des dreiteiligen Stücks und Messiaens synästhetische Klang- und Farbvorstellung, die in einzelnen Akkorden „das Rot, das Gold und das Blau ferner Kirchenfenster“ abbildet. Bis zu den Orchesterfassungen der vier Orgelmeditationen L’Ascension und der neun Poèmes pour Mi, die Messiaen 1936/37 für seine erste Frau Claire Delbos („Mi“) gedichtet und vertont hat, verfolgt der Komponist den einmal eingeschlagenen Weg geradlinig weiter.

Die Trois petites Liturgies de la Présence divine (1943/44) und die monumentale Turangalîlâ-Symphonie (1946 bis 1948) lassen sich ohne weiteres derselben Gedanken- und Tonwelt zuordnen wie L’Ascension, doch sie scheinen ins Überdimensionale gesteigert zu sein – eine wahrhaft kosmische Musik, die mit ihrer Verknüpfung von Eros, Thanatos und Theos („Ein Mensch, der betet, betet mit seiner Seele, seinem Geschlecht und seinem Gehirn“) dem theosophischen Mystizismus Alexander Skrjabins überaus nahesteht. Die Klangorgien aus dem bald süßlichen, bald grellen Jaulen der Ondes Martenot, aus Streicherschmelz und Bläserkaskaden, aus komplexer und hochvirtuoser Pianistik und schlichten Chorvokalisen, aus Tristan-Chromatik und modaler Metrik, aus kadenzierten Dreiklängen und jagenden Clustern bewegen sich oft – mit Verlaub – hart an der Grenze zu Filmmusik und Klangkitsch; aber die Naivität, mit der Messiaen seinen Glauben erklingen lässt, bewahrt ihn davor, die Grenze zu überschreiten.

‚Ad maiorem Dei gloriam‘ lässt Messiaen seit der Turangalîlâ-Symphonie auch Vogelstimmen in das musikalische Geschehen eingreifen; mehr und mehr bestimmen sie Form und Gestalt seiner Werke, bis hin zu Réveil des oiseaux (1953) und Oiseaux exotiques (1955/56). Diese beiden rein ‚ornithologischen‘ Kompositionen Messiaens für Klaviersolo und Orchester stehen zum einen in der Nachfolge des Serialismus, als deren eigentlicher Begründer Messiaen (genauer gesagt: seine Klavieretüde Mode de valeurs et d’intensités) gelten muss, zum anderen setzen sie die Collagentechnik fort, die seit den Akkordschichtungen der Ascension zum festen Bestandteil des Messiaen‘schen Idioms gehört. Messiaens einziges streng serielles Orchesterwerk Chronochromie, das Hans Rosbaud am 16. Oktober 1960 in Donaueschingen aus der Taufe hob, ist somit zugleich Höhepunkt und Abschluss dieser mittleren Schaffensphase des Komponisten.

Nach den Sept Haïkaï (1962) für Klavier und kleines Orchester wendet sich Messiaen 1963 mit den Couleurs de la cité céleste und ein Jahr später mit Et exspecto resurrectionem mortuorum wieder eindeutig theologisch orientierten Themen zu; allerdings erscheint die musikalische Sprache dieser beiden Werke gegenüber früheren Partituren sehr viel schärfer und akzentuierter, statischer und ohne ästhetische Gratwanderungen zwischen Kunst und Kitsch. Sie bereiten das vierzehnteilige Oratorium La Transfiguration de Notre-Seigneur Jésus-Christ (1965 bis 1969) vor, das in Aufwand und Anspruch gewissermaßen die Summe aller vorausgegangenen Kompositionen Messiaens zieht. Eine weitere Steigerung – freilich jenseits aller theologischen Überlegungen – ist Des Canyons aux Étoiles (1971 bis 1974), Messiaens vorletztes größeres Orchesterwerk.
Verfolgt man den Weg von den Offrandes oubliées (Spieldauer zwölf Minuten) zu Des Canyons aux Étoiles (Spieldauer hundert Minuten), so ist die Erweiterung von Zeit, Raum, Besetzung und Farbigkeit letztlich nur der Spiegel einer Bewusstseinserweiterung, innerhalb deren sich Messiaen stets treu geblieben ist. Jedes neue Werk setzt das vorausgegangene außer Kraft, kommt dem Geheimnis des Seins (und Gottes) ein wenig näher. Wer bereit ist, diesem theozentrischen Weltbild des Komponisten zuzuhören, wird in Messiaens Musik einen Reichtum entdecken, wie ihn kaum ein anderer Autor unseres Jahrhunderts entfaltet hat.

Weitere Orchesterwerke: Anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten des Kriegsendes wurde 1995 die fünfzig Jahre früher komponierte Siegeshymne Chant des Déportes für Chor und Orchester wiederaufgeführt (Köln, Paris). Der Text stammt von Messiaen. Nachdem das Manuskript als verschollen gegolten hatte, wurde es im Pariser Rundfunkarchiv nach längerem Suchen gefunden. Seinerzeit war es eine Auftragskomposition von Radio France.
Nach seiner Oper Saint François d’Assise (1983) wollte Messiaen eigentlich nichts mehr komponieren, doch drei Jahre später schrieb er mit Un vitrail et des oiseaux und La ville d’En-Haut zwei weitere Orchesterwerke (mit Klavier), anlässlich des 200. Todestages Mozarts das knappe Orchesterstück Un sourire und kurz vor seinem Tod für das New York Philharmonic Orchestra noch den elfsätzigen, für eine riesige Orchesterbesetzung konzipierten Zyklus Éclairs sur L’Au-Delà, in dem er die letzte Summe seiner musikalischen Erfahrungen gezogen hat.
Michael Stegemann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.