Nikolaj Rimskij-Korsakow

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t1 Konzertführer
Nikolai Rimsky-Korsakow
Nikolaj Rimskij-Korsakow

Tichwin, 6.(18.) März 1844 – Ljubensk, 8.(21.) Juni 1908

Unter den Mitgliedern des einstigen ‚Mächtigen Häufleins‘ jener Petersburger Komponisten zwischen 1860 und 1870, die sich um eine national russische Musiksprache ernsthaft bemühten und den kompositorischen Dilettantismus zum ästhetischen Prinzip erhoben, nimmt Nikolaj Rimskij-Korsakow eine Ausnahmestellung ein: Er wurde ab 1871, als er zum Konservatoriumsprofessor aufstieg, der Abtrünnige des Kreises um Mili Balakirew und avancierte allmählich zum blendendsten Orchestertechniker der neueren Musik. (Igor Strawinsky, sein Schüler, profitierte später davon, etwa in seinem Feuervogel.) Seiner klanglichen Begabung gemäß zog es ihn – vor allem in seinen Märchenopern der späteren Jahre – zu exotischen und übersinnlichen Stoffen, nachdem er in den ersten Jahren von Balakirew als Symphoniker eingeschätzt und dementsprechend zur Komposition von drei Symphonien angehalten worden war. Als Anton Rubinstein im Oktober 1861 das Petersburger Konservatorium eröffnete, empfand das der Kopf des ‚Mächtigen Häufleins‘, Mili Balakirew, als offenen Affront gegen seine eigenen Bestrebungen, die geniale Ursprünglichkeit dem Joch der „deutschen Musikgeneräle“ zu entziehen. Er witterte die Ausbildung der jungen russischen Musiker zu Musikbeamten, die ebensolche lederne Symphonien schrieben wie Rubinstein selbst. Balakirews prinzipielle Ablehnung jeglicher akademischen Satzlehre – sei es Formen-, Harmonie- oder Kontrapunkttechnik – machte es indessen seinen eifrigen Schülern sehr schwer, sich in den satztechnischen Problemen, die unausweichlich immer wieder auftauchten, zurechtzufinden. Mit Intuition allein konnte man gewiss keine Symphonien oder gar Opern komponieren! Rimskij-Korsakow schildert in seiner Autobiographie – teilweise erst nach der Jahrhundertwende geschrieben – höchst anschaulich die unerschrockene Art Balakirews, die Schüler ohne viel Umschweife an die großen Gegenstände, und zwar je nach Talent an die Symphonie oder an die Oper, heranzulassen. So glaubte Balakirew, dass Rimskij-Korsakow der geborene Symphoniker sei – er wurde jedoch zum fruchtbarsten Opernkomponisten der russischen Musikgeschichte – und ließ ihn sogleich eine Symphonie in der verwegenen Tonart es-moll schreiben.

Rimskij-Korsakow quälte sich von 1861 bis 1865 damit herum, unterbrochen von der täglichen Brotarbeit – alle Mitglieder des ‚Mächtigen Häufleins‘ waren im Hauptberuf keine Musiker – und brachte die Symphonie als op. 1 tatsächlich zu einem guten Ende. Doch er sagt später einschränkend über diese Zeit: „Es wäre Balakirews Aufgabe gewesen, mir ein paar Harmonie- und Kontrapunktstunden zu geben, mich einige Fugen schreiben zu lassen und mir die Syntax der musikalischen Formen beizubringen. Dazu war er nicht in der Lage, denn er hatte diese Fächer ja selbst nie systematisch betrieben und hielt sie für entbehrlich.“ Aus diesen Worten spricht natürlich der Akademiker, der die Rolle der authentischen kompositorischen Phantasie unterschlägt. Wie hätte er aber ohne sie die erste Symphonie schreiben können? Als Vorbilder gibt er selbst Schumanns Manfred-Ouvertüre und dritte Symphonie an, ferner Glinkas Jota aragonese, und Balakirews Musik zu König Lear und verweist darüber hinaus auf seine „gute Beobachtungs- und Auffassungsgabe“. Dennoch nahm er sich im Frühjahr 1884 das Erstlingswerk mit dem kritischen Blick des Kompositionslehrers noch einmal gründlich vor und unterwarf die erste russische Symphonie, wie man sie immerhin nach der 1865 erfolgten Uraufführung nannte, einer grundlegenden Umgestaltung. Bei dieser Gelegenheit änderte er auch die Grundtonart von es-moll nach e-moll. Der Balakirew-Kreis hatte an Stelle der akademischen Kompositionslehre das Modell der kollektiven Kritik eingeführt, dem Rimskij-Korsakow, als Konservatoriumsprofessor, satztechnische Unzuständigkeit vorwarf. Das ist denn auch durchaus berechtigt, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Balakirew muss gespürt haben, dass die Beherrschung der technischen ‚Tricks‘ es einem Komponisten erlaubt, auch ohne Phantasie einen anständig klingenden Satz zusammenzubringen, dem aber eines fehlt: die wahre Inspiration. Vorerst schuf denn auch Rimskij-Korsakow Orchesterwerke in diesem Geiste, die er aber später allesamt, zum Teil mehrfach (!), umarbeitete. Darunter befinden sich noch zwei weitere Symphonien, die eher als mehrsätzige symphonische Dichtung angelegte zweite Symphonie nach dem Märchen Antar op. 9 (1868, umgearbeitet 1876) und die dritte Symphonie, in der ‚rationalen‘ Tonart C-dur op. 32 (1866 bis 1873, revidiert in den Jahren 1885 bis 1886) und eine Sinfonietta in a-moll über russische Themen op. 31 (1879, umgearbeitet 1880 bis 1884) als Nachzügler gewissermaßen. Die Komposition der dritten Symphonie fällt genau in den Übertritt vom Dilettantismus zum Ideal der akademischen Disziplin. So ist es nicht verwunderlich, dass die ehemaligen Komponistenkollegen des Balakirew-Kreises die Komposition der dritten Symphonie als Affront gegen die Ästhetik des genialen Realismus, wie ihn schließlich ohnehin nur noch Mussorgsky als einziger vertrat, verstanden. Die abfällige Bemerkung Mussorgskys, die Musiker ergötzten sich nur am Wechsel der Harmonien und erblickten ihr Gewerbe in der Handhabung technischer Spitzfindigkeiten, passt genau auf die Symphonie C-dur, an der Rimskij-Korsakow gerade arbeitete. Die Uraufführung am 18. Februar 1874 war denn auch ein Misserfolg, nicht nur bei den Freunden. Rimskij-Korsakow berichtet darüber in seiner Autobiographie: „Meine musikalischen Freunde nahmen die Symphonie sehr zurückhaltend auf. Sie fanden sie, mit Ausnahme des Scherzos, allgemein etwas trocken, mit der reichen Kontrapunktik waren sie nicht einverstanden, und vielen war sogar die Instrumentation zu alltäglich. Borodin war offensichtlich der einzige, dem das Werk wirklich gefiel, wenn er auch bemerkte, ich hätte ihn aus meiner Symphonie angeschaut wie ein bebrillter Professor, der soeben eine große Symphonie in C geschaffen habe.“ Auch Tschaikowsky – sonst ein eher wohlwollender Kritiker der Musik Rimskij-Korsakows – äußerte sich einigermaßen negativ; er warf der Symphonie ein Dominieren der Kompositionstechnik über die Qualität der Gedanken vor (!), ferner Mangel an Einfällen, ja, er meinte sogar, Details seien auf Kosten der Gesamtwirkung unzulässig ausgeschmückt, obwohl er im gleichen Atemzug die „betörende Fülle und Ausgesuchtheit der koloristischen Details“ rückhaltlos bewunderte. Hier liegt denn wohl auch der Widerspruch in der Erscheinung der Musik Rimskij-Korsakows begründet. Die blendend instrumentierten Orchesterwerke der späteren achtziger Jahre stellen das ohne Ausnahme unter Beweis.

Im Sommer 1887 komponierte Rimskij-Korsakow ein fünfsätziges Orchesterwerk auf original spanische Themen (Capriccio espagnol op. 34), die er nicht, wie Glinka, im Land selbst gehört hatte, sondern einer Sammlung spanischer Lieder und Tänze, regional geordnet, entnahm. Der Meister des virtuosen, glänzenden Orchestersatzes verwirklicht hier seine ursprüngliche Idee, eine spanische Phantasie für Violine und Orchester zu schreiben, übrigens analog zu der 1886 komponierten Phantasie über russische Themen, indem er die Solovioline mehrfach aus dem Orchester hervortreten lässt, obwohl es ein reines Orchesterwerk ist: „Meine Absicht war, das Capriccio sollte glänzen durch die virtuosen Farben des Orchesters“, so schreibt er in seiner Autobiographie, und an anderer Stelle gibt er sogar zu, dass die spanischen Themen ihm Material geliefert hätten für „Orchester-Effekte“; das Stück sei „ohne Zweifel ein oberflächliches“, aber immerhin ein „wirkungsvolles“. Die Ästhetik des ‚Mächtigen Häufleins‘ ist der Demonstration kompositorischen Könnens gewichen. Tschaikowsky gratulierte dem Komponisten zu „einem großen Meisterwerk der Orchestrierung“, dem Rimskij-Korsakow alsbald ein weiteres folgen ließ, denn bereits im Frühjahr 1888 skizzierte er seine Ouvertüre Russische Ostern op. 36. Hier verwendet er als Material für seine klanglichen Phantasien Themen der russischorthodoxen Liturgie, freilich wieder nur als Anlass sorgfältig ‚inszenierter‘ Orchester-Effekte, nicht im Sinne Mussorgskys, der solches Material begriff als das „Vergangene im Gegenwärtigen“, als historisch getreues, musikalisches Ambiente. Rimskij-Korsakow hatte dagegen anderes im Sinn, er wollte „diese legendären und heidnischen Züge des Festes, diesen Stimmungsumschlag vom düster-geheimnisvollen Karfreitag in die ungebändigte heidnischreligiöse Fröhlichkeit des Ostermorgens [...] zum Ausdruck bringen“. Es ging ihm um eine „allgemeine Darstellung des Ostergottesdienstes“, wie ihn die russisch-orthodoxe Kirche mit großem Gepränge zu begehen pflegt. An der Partitur arbeitete er im Sommer 1888, gleichzeitig mit seinem heute bekanntesten Orchesterwerk, der symphonischen Suite Scheherazade op. 35, die seinen Hang zu musikalischen Orientalismen zeigt. Das Sujet der vier Sätze ist den Märchen aus Tausendundeiner Nacht entnommen, freilich in rein musikalisches Material verwandelt, das Rimskij-Korsakow einem komplizierten Motivspiel durch alle vier Sätze hindurch unterwirft: „Indem diese Motive und Themen jedes Mal in verschiedenen Farben, Formen oder Stimmungen erscheinen, entsprechen sie immer verschiedenen Vorstellungen, Handlungen oder Bildern“ (Autobiographie). Mit anderen Worten: Rimskij-Korsakow will die Phantasie des Hörers nicht konkret einengen, sondern ihm die Möglichkeit geben, der Phantasie des Komponisten mit eigenen, freien Assoziationen zu folgen. Deshalb ließ er bei der Veröffentlichung der Partitur auch alle Satztitel weg, damit die einzelnen Episoden ganz für sich sprechen können. Den roten Faden des Ganzen bildet das Thema der Solovioline, mit dem Scheherazade selbst sich darstellt, wie sie dem Sultan ihre wundersamen Geschichten erzählt. Wir hören sie in der dekorativen Virtuosität Rimskij-Korsakows, die im russischen Orientalismus des Antan so verheißungsvoll begonnen hatte.

Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.