Niels Wilhelm Gade

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t1 Konzertführer
Niels Wilhelm Gade
Niels Wilhelm Gade

Kopenhagen, 22. Februar 1817 – Kopenhagen, 21. Dezember 1890

Als Robert Schumann in einem programmatischen Artikel für Johannes Brahms 1853 „Neue Bahnen“ beschrieb, schien ihm Niels Wilhelm Gade – auf Grund seiner bis zu diesem Zeitpunkt entstandenen und immer Aufsehen erregenden Ouvertüren und Symphonien, die sich in Leipzig größerer Beliebtheit und Bekanntheit erfreuten, als in Gades Heimatland Dänemark – bereits bedeutungsvoll genug, um ihn unter die wegbereitenden Vorboten des sich in Brahms‘ Werk manifestierenden Stilwandels zu zählen. Schumann hatte Gade, der sich unter Mendelssohns hilfreicher Ägide in Leipzig mit den Uraufführungen der Ouvertüre Nachklänge von Ossian op. 1 (1842) und der ersten Symphonie c-moll op. 5 (1842) quasi über Nacht in die erste Reihe europäischer Komponisten katapultierte, ebenfalls in der ‚Neuen Zeitschrift für Musik‘ (1844) einen emphatischen Personalartikel gewidmet, in welchem er prophetisch-weise dem Wunsch Ausdruck verlieh, „daß der Künstler in seiner Nationalität nicht etwa untergehe, daß seine nordschein-gebährende Phantasie... sich reich und vielgestaltig zeige, er sich schlangengleich häute, wenn das alte Kleid zu schrumpfen beginnt“.

Das die Ossian-Ouvertüre bestimmende augenzwinkernde Mienenspiel zwischen Form und Inhalt gewinnt durch die farbenfrohen Instrumentalkombinationen in symmetrischer Anlage die Wertigkeit des bewussten Auflehnens gegen die Forme(I)n seiner Zeit und begründet Gades im Untertitel beigefügtes ästhetisches Postulat für sein gesamtes Schaffen: „Formel hält uns nicht gebunden, uns‘re Kunst heißt Poesie!“ Elegische Melodik in harmonisch-starrer Faktur gedämpfter Instrumentation, orchestrale Effekte martialischer Hell-Dunkel-Kontraste gegenüber zart ineinanderfließenden Farbtönen begründen den „entschieden ausgeprägten nordischen Charakter“ (Schumann) der Ouvertüre, der auch den beiden ersten Symphonien nachgerühmt wird (zweite Symphonie E-dur op. 10, 1843). Der insgeheim an alle ausländische Musik erhobene Anspruch nationaler Eigenständigkeit in klanglicher Unverwechselbarkeit (Lokalkolorit) entstammt dem aus deutscher Sicht defizitär empfundenen Mangel einer eigenständigen nationalen symphonischen Ausprägung der Periode nach Beethoven und findet seine Erfüllung vornehmlich im naturromantischen Ausdruck insbesondere der balladesk-rhapsodischen Sätze der frühen Symphonien Gades.

So bezeichnend das für Gade bemühte Idiom vom ‚nordischen Ton‘ seiner Symphonik vordergründig erscheinen mag, so notwendig drängt sich eine Differenzierung des Begriffs in die adjektivische Trias auf, die generalisierend darunter gefasst ist: nordisch, national und dänisch müssen – zumindest intentional – voneinander geschieden sein, wenngleich gerade in ihrem gemeinsamen Auftreten und gegenseitigen Bedingen das auffällige, beschreibbare Charakteristikum der Musik Gades fasslich wird. Die Integration dänischer Volkslieder und Volkstänze in die Symphonik, die fast durchgängig an dänischen Nationalweisen orientierte Melodik, komponierte Balladen ‚im Volkston‘ sowie die als typisch aufgefasste Verwendung des 6/8-Taktes stehen gemeinhin für die als ‚dänisch‘ bezeichnete ursprüngliche Volkstümlichkeit. In der Idealisierung des Altertümlichen, des Nordischen und des Einfachen bei gleichzeitiger Lösung von stilistisch und kompositionstechnisch vorbildhaften Konventionen, kommt jene bewusste ‚nationale‘ Attitüde Gade‘scher Kunst zum Ausdruck, die mit zu nehmendem zeitlichen Abstand zur Entstehungszeit der Musik Gades durchaus zum negativen Terminus gewendet, als Vorwurf der Einseitigkeit gegenüber seiner Musik erhoben wird. In dem gleichen Maße, wie Gades Symphonik stilistisch europäisch ausgerichtet ist, verliert die Leipziger Schule, deren Vorbildcharakter in der dritten Symphonie a-moll op.15 (1847) und der vierten Symphonie B-dur op. 20 (1850) am deutlichsten spürbar scheint, zugunsten neuer Formen des Ausdrucks, zum Beispiel in der fünften Symphonie d-moll op. 25 (1852) mit solistischem Klavierpart, der sechsten Symphonie g-moll op. 32 (1857) sowie zugunsten der Betonung nationaler Stiltendenzen (siebte Symphonie F-dur op. 45, 1864; achte Symphonie h-moll op. 47, 1871) an Gewicht.

Die Sichtweise der Zugehörigkeit Gades zu einer vermutlich übernationalen – und im 19. Jahrhundert gerade in Deutschland bereitwillig akzeptierten – (germanischen) Tradition und der seiner Musik zugedachte Hauch nordischer Poesie erklären seinen Erfolg in einer Zeit des erwachenden Bewusstseins für die zunehmend aus nationalen Quellen gespeiste Musik der Romantik; Gades nachdrückliches Streben nach Einheit im Ausdruck lässt die Beschreibung seiner Musik als ‚nordisch‘ verständlich erscheinen. Die schmeichelnd befriedigte Rezeptionshaltung subsumierte darunter ohne Mühe sowohl die klare, weite Ruhe idyllischer Kleinkunst (etwa der Suiten für Streichorchester Noveletten F-dur op. 53, 1874, und E-dur op. 58, 1883) als auch eine etwaige ans Heroische grenzende Symphonik, ja verzichtete sogar im Versuch der Periodisierung des Schaffens (erste Periode: Ossian-Periode, zweite Periode: kosmopolitische Periode) auf eine deutliche Trennung gälischer und dänischer Stoffkreise im Werk, sodass mit der Akzentuierung des Nordischen in Gades Musik immer zugleich auch ein wahrgenommenes, aber nicht verbalisiertes musikalisches Phänomen beschrieben ist, das ganz allgemein für skandinavische Musik zutrifft. Als sogenannter ‚nordischer Ton‘ gilt aus deutscher Sicht also jene typisierende Verbindung von melodischen, metrisch-rhythmischen, harmonisch-tonalen und (freien) formalen Elementen, die zum Zeitpunkt der Rückkehr Gades nach Dänemark als starre negative Wertung über seine Musik festgeschrieben wurde und heutzutage unter der Berufung auf den überkommenen Standpunkt als ‚dänischer Exotismus‘ stigmatisiert, die Vergessenheit des umfangreichen Werkkanons begründet. Mit den griffigen Kategorien von ‚Volkstümlichkeit‘ und ‚Poesie‘ bleibt fortan die Musik Gades und die seines direkten Schülerkreises oder all jener indirekt von ihm beeinflussten nachfolgenden Komponisten Skandinaviens belegt, die an einer symphonischen Problemlösung der nach-Beethoven‘schen Ära nicht teilgenommen haben, sondern in einer als seitenbezogenen Kunstströmung bewerteten Symbiose von europäischer Kunstmusik und sogenannter nordischer Empfindung die eigenständige nationale Entwicklung forcierten. Die der Symphonik Gades häufig einbeschriebene volkstümliche Einfachheit beruht hauptsächlich auf einer vorn Volkslied inspirierten Themenbildung (sofern nicht ohnehin Zitat) in ihrer Entfaltung aus einem harmonisch gefestigten Grundklang heraus. Der Verzicht auf neutrale Eigenschaften (wie etwa im klassischen Thema) garantiert neben der Bestimmtheit des Stils und der bildzeugenden Kraft des rhapsodischen Elements in der thematischen Verbindung der Sätze untereinander auch einen unmissverständlichen und einheitlichen poetischen Charakter. Solcherlei Vorteile bedingen in der aus der Einheit des Ausdrucks heraus vorgegebenen Kargheit des musikalischen Materials die Unmöglichkeit der motivischen Ausspinnung und legen nicht selten im monothematischen Aufbau des Symphoniesatzes außer der Deduktion von Nebengedanken aus einem einzigen thematischen Prototyp und der Technik thematischer Montage die Wiederholung und Abwandlung des eigentlichen thematischen Komplexes nahe. Damit wird zwar das rational geregelte, harmonisch-modulatorisch bestimmte gegensätzliche Verhältnis der Themen im traditionellen Symphoniesatz aufgegeben, mit dem weniger gefestigten Formenbau aber zugunsten eines einzig poetischen Elements in der Vereinheitlichung des musikalischen Materials die Betonung des Sinnbildlichen schlechthin (im Sinne eines starken poetisch-assoziativen Potentials) erreicht. Nur in dem Verständnis der poetischen Idee als Regulativ enger motivisch-thematischer Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der symphonischen Musik und vor dem Hintergrund der um das ‚Poetische‘ in der Definition August Wilhelm Schlegels kreisenden romantischen Musikanschauung („die für etwas Geistiges eine äußerliche Hülle sieht oder ein Äußeres auf ein unsichtbares Inneres bezieht“), ist Schumanns Diktum über Gade angemessen zu verstehen: „Sie sind ein trefflicher Poet!“
Norbert Bolin

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.