Max Reger

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t1 Konzertführer
Max Reger
Max Reger

Brand/Oberpfalz, 19. März 1873 – Leipzig, 11. Mai1916

Der hektisch produktive Max Reger hat erst im letzten Viertel seines kurzen Lebens Orchestermusik geschrieben, darunter jedoch, ungeachtet mehrerer Anläufe, keine Symphonie. Ausgangspunkte waren zwei um die Jahrhundertwende zurückgedrängte Gattungen: von Bachs Polyphonie wie vom Chromatismus der gelockerten Tonalität bestimmte Orgelmusik – sie drang, im Gegensatz zu Regers übrigen Werken, über das deutsche Sprachgebiet hinaus – und Kammermusik von der mit Brahms-Reminiszenzen wie mit Jugendstilelementen durchsetzten Klavierminiatur bis hin zu ausladenden Streichquartetten, Solo- wie Duosonaten, Liedern usw. Der Lehrerssohn – Lebensstationen: die damalige Kleinstadt Weiden, Wiesbaden, München und ab 1907 Mitteldeutschland – fühlte sich, in Opposition zu Liszt und Strauss, als legitimer Vollstrecker einer von Bach, Beethoven und Brahms hergeleiteten Tradition der ‚absoluten Musik‘, weitete durch ausufernde Phantastik die überkommenen Schemata, komplizierte den dichten, von Vortragsanweisungen schier überfrachteten Satz durch eine unablässig modulierende Harmonik wie durch nicht minder verwickelte Kontrapunktik und entfaltete einen Artismus des kompositorischen Handwerks, der sich nicht selten zum Selbstzweck zu übersteigern scheint.

Regers erste Orchesterpartitur, die Sinfonietta A-dur op. 90 von 1905, ein viersätziges, deutlich mit Brahms sympathisierendes Fünfzig-Minuten-Opus, empfanden die Zeitgenossen als Schrecknis, wohl wegen ihrer Länge und wuchtigen Besetzung. Zwei Jahre später begab sich Reger auf ein virtuos beherrschtes Terrain: zu Variationsreihen für großes Orchester. Die auf Beethoven und Brahms basierende Fertigkeit Regers, ein Thema in allen Möglichkeiten abzuwandeln, im Charakter zu verändern, schier von Takt zu Takt in wechselndem Licht erscheinen zu lassen und am Ende in eine riesige Fuge einzubinden, bestimmte 1907 die elf Variationen und Fuge über ein simples E-dur-Thema des Singspielkomponisten und Thomaskantors Johann Adam Hiller, der am Ende des 18. Jahrhunderts so etwas wie eine ‚neue Einfachheit‘ in Oper und Lied verfochten hatte. Die naive Melodie aus dem Singspiel Der Erntekranz wird rhythmisch und harmonisch verändert, erscheint als Menuett wie als furioses Allegro, als Scherzo wie als Elegie, bleibt aber in allen kompositorischen Winkelzügen erkennbar. Am Schluss der bravourös aufgetürmten Fuge intonieren die Posaunen das Liedchen. Die Variationen und Fuge über ein Thema von Beethoven stellen die 1916 zu Papier gebrachte Orchesterfassung des 1904 für zwei Klaviere gesetzten Zyklus dar. Abgewandelt wird die letzte Bagatelle in B-dur aus Beethovens Opus 119. Die Orchesterversion ändert die Reihenfolge der Variationen und lässt vier Abschnitte beiseite.

Regers bevorzugtes Orchesterwerk sind die acht Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart op. 132 von 1914. Hochgreifend wählte Reger ein Thema, A-dur, das Mozart selbst im Kopfsatz der Klaviersonate KV 331 variiert hat. Das Grazioso-Thema wird von den Holzbläsern und dann von den Streichern exponiert. Die erste Variation behält das Andante-Tempo bei und gibt sich rein figurativ. Nr. 2 bringt die erste Steigerungswelle, während Rhythmus und Themenkern beibehalten werden. Nr. 3 beschleunigt das Tempo, vereinfacht die rhythmische Gestalt des Themas und versetzt das Geschehen nach Moll. Nr. 4 ist ein Scherzo im Zweivierteltakt; Nr. 5 ein dahinhuschendes Presto, vergleichbar manchen Passagen bei Brahms. Nachdem Charakter und Rhythmus des Mozart‘schen Andante weitgehend verändert worden sind, nähern sich die drei letzten Variationen wieder dem Thema. Nr. 6, Sostenuto, verbreitert den Ablauf und vereinfacht den Rhythmus. Nr. 7 greift auf die Originalgestalt zurück; Violoncelli und Hörner übernehmen das Thema, während Geigen und Soloflöte zarte Schlusswendungen setzen.

Die letzte Variation im Adagio-Tempo meditiert in elegischen Farben frei über Elemente des Mozart‘schen Themas. Neue Gedanken treten hinzu; es ergibt sich eine großangelegte Fantasie als Ruhepunkt vor der ausgedehnten Schlussfuge, die Allegretto grazioso in Ausgangstonart und Grundrhythmus in den ersten Geigen einsetzt und dann von den Streichergruppen aufgegriffen wird. Die Flöte bringt ein weiteres, lyrisches Thema ins Spiel. Nach kontrapunktischen Winkelzügen aller Art steigert sich das Fugenthema, bis zum Schluss die Trompeten im Fortissimo die Mozart-Melodie dramatisieren.
Kaum aufgeführt wird das schwierigste und düsterste von Regers Orchesterwerken, der Symphonische Prolog zu einer Tragödie op. 108, komponiert 1908 als eine überdimensionale Fortsetzung des Pathos der Tragischen Ouvertüre von Brahms.

Verhältnismäßig viel beachtet wurden in der wilhelminischen Zeit, deren Lebensgefühl sie spiegeln, die Orchesterwerke, in denen sich Reger der ihm sonst suspekten Programmatik nähert, mehr um seine kompositorische Bravour auch auf diesem Terrain zu beweisen, als aus Affinität zu Liszt oder Strauss. Eine romantische Suite, op. 125 (1912) reflektiert in vier Sätzen Gedichte von Eichendorff. „Hörst du nicht die Quellen gehen“ gab den Anstoß zu dem eröffnenden, weichen Notturno. Das Scherzo (Vivace) setzt Mendelssohns Elfenmusiken fort und nimmt zum Motto „Bleib bei uns, wir haben den Tanzplan im Tal bedeckt mit Mondesglanze“. Eine langsame Einleitung führt in das Finale: „Steig‘ nur, Sonne, auf die Höh‘n.“ Während die Romantische Suite Liedmeditationen ohne Wort und bloße Stimmungsreflexe beinhaltet, werden die vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin op. 128 (1913) durchaus konkret und spiegeln vier der damals in Buntdrucken in jedem Bürgerhaus anzutreffenden Gemälde des Schweizer Spätromantikers in tonmalerischer Ausführlichkeit.
Der geigende Eremit bedient sich einer instrumentatorischen Finesse: Zwei Streichorchester, eines mit, eines ohne Dämpfer, treten der Solovioline gegenüber. Im Spiel der Wellen ist ein Scherzo, Die Toteninsel ein fahler, langsamer Satz mit differenziertem Streicherklang. Bacchanale gibt sich dionysisch und vital.

In den Umkreis der Tondichtungen gehört die sechsteilige Ballettsuite op. 130 (1913) mit ihren vom Geist des Rokoko angehauchten Porträts der Lustspieltypen Colombine, Harlequin, Pierrot und Pierrette, ihrem Presto-Finale und ihrer Valse d'amour in E-dur, die den üppigen Tonfall der Konzertwalzer der Jahrhundertwende aufgreift und zu parodieren scheint.
Dem Violinkonzert A-dur op. 101 (1907/08) und dem Klavierkonzert f-moll op. 114 (1910) liegt die Absicht zugrunde, den Typus des hochromantischen symphonischen Instrumentalkonzerts in jeweils drei Sätzen auf Überlänge auszudehnen, mit harmonischen wie kontrapunktischen Künsten schier zu überfrachten und mit spieltechnischen Schwierigkeiten auszustatten.

Puristischer Eifer unterdrückt neuerdings jene Orchesterwerke, in denen Reger zumal für Hindemith zu einer Ausgangsposition und für das Neobarock der zwanziger und dreißiger Jahre zum freilich noch durchaus spätromantisch gefärbten Wegbereiter wurde: das Konzert im alten Stil op. 123 (1912), wo in zwei Soloviolinen der barocke Concerto-Typus anklingt, und die 1916 orchestrierte, 1906 für Violine und Klavier komponierte Suite im alten Stil. Der Tonfall Bachs und Händels spiegelt sich in Regers Kontrapunkt und in seiner weichen, fortwährend modulierenden Harmonik. Zusammen mit der späten Kammermusik, zumal mit den Solosonaten für Streichinstrumente, bereiten diese Partituren ein neues Formgefühl, ein lineares Musizieren nach Hindemiths Art und sogar expressionistische Praktiken vor. Noch eindeutiger tut dies die zentrale Werkgruppe: Regers Orgelmusik mit ihrer strikten Berufung auf Bach.
Karl Schumann

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.