Mauricio Kagel

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t1 Konzertführer
Mauricio Kagel
Mauricio Kagel

geb. Buenos Aires, 24. Dezember 1931 – gest. Köln, 18. September 2008

Mauricio Kagel ist ebenso wenig primär als Orchestermusikkomponist charakterisierbar wie primär als Komponist irgendeines anderen Genres. Der seit 1957 in Köln lebende Komponist – inzwischen ist er deutscher Staatsbürger – ist in mehreren Genres und Kunstmedien außerordentlich spezifisch und mehrfach geradezu initiativ tätig, ist Kammermusik-, Orchester-, Musiktheater-, Film- und Hörspielkomponist. Im Werkverzeichnis Kagels spielt Orchestermusik bis 1985 nur gelegentlich eine Rolle, dann aber nimmt die Zahl der Kompositionen für kleines, mittleres und großes Orchester wesentlich zu. Man kann das Phänomen mit Kagels Musiktheaterarbeiten vergleichen, die in seiner experimentellen Phase ausschließlich für Studio-, Werkstatt- und Kammertheaterbühnen entstanden sind und erst seit Staatstheater 1971 auch für große Bühnen.

Andererseits zeigen die Orchesterkompositionen mehr noch als Ensemble-, Kammermusik- und Klavierstücke an, wie weit ein Komponist sich von den herrschenden Normen etwa der Instrumentierung, der Klangerzeugung, der musikalischen Grammatik und der Hörerwartungen entfernt. So ist Heterophonie nach den noch in Buenos Aires entstandenen Dos Piezas para orquesta, Kagels erste größere Orchesterarbeit, 1959 bis 1961 entstanden und 1962 unter der Leitung des Komponisten bei erheblichem Widerstand der beteiligten Orchestermusiker uraufgeführt worden, sodass Kagel das Stück nachträglich „Dem Marquis de Sade (und dem Kölner Rundfunksymphonieorchester) gewidmet“ hat. Aber auch die zweite Aufführung des Stücks unter der Leitung von Michael Gielen mit dem Symphonieorchester des Hessischen Rundfunks in Frankfurt 1967, die eigentliche Uraufführung, hat dem Stück nicht den erhofften Durchbruch gebracht. – Erst eine wesentlich spätere einfachere Orchestermusik Kagels wie die Variationen ohne Fuge hat eine nennenswerte Zahl von Aufführungen erlebt.

Dabei hat Kagel in Heterophonie einen der Neuen Musik der fünfziger und sechziger Jahre insgesamt wesentlichen Aspekt mit der ihm eigenen Gründlichkeit ausgearbeitet, den der Heterogenität von Klangverläufen im Gegensatz zur Homogenität der Musik der Dur-Moll-Tonalität. Insofern ist das für zweiundvierzig obligate Instrumentalisten angelegte Stück vom Bewusstsein einer Spätkultur getragen, als es auf die Instrumentalbesetzungen der Geschichte der Neuen Musik als einer Materialbasis rekurriert. Kagel hat mit Hilfe eines Arsenals von avancierten Spielweisen und Notationen zunächst kleinere Modelle für diese Besetzungen geschrieben und sie später ineinander- und übereinander gefügt und daraus fünf Formteile zusammengestellt, die zyklisch eine teilbare Einheit bilden: Es kann mit jedem Teil begonnen und abgeschlossen werden; zwei aufeinanderfolgende Teile sind für eine Aufführung des Stücks ausreichend. Vorangestellt ist ein außerordentlich variabel gehaltenes Vorspiel, in dem das Einstimmen der Orchesterinstrumente und das Durcheinanderspielen der Musiker simuliert wird. Das Stück verfügt weiter über verschiedenartige Ergänzungen. So ist Mauricio Kagels Heterophonie als vielfältig realisierbares kompositorisches Schlüsselprojekt erst noch zu erproben und zu entdecken.

Variationen ohne Fuge von Kagel über die Variationen und Fuge von Brahms über ein Thema von Händel entstand 1973 als Auftragswerk zu den Brahms-Wochen der Stadt Hamburg. Als „Musik über Musik über Musik“ gehört das Stück in die neoklassizistische zweite Werkphase Kagels, benutzt eine mehr herkömmliche Orchesteranordnung. Metrik und Rhythmik, und das meiste ist bei veränderter Zahl und Reihenfolge der Abschnitte direkt der Brahms-Partitur entnommen. Nur zwanzig der fünfundzwanzig Brahms-Variationen sind teils übereinander montiert zu insgesamt vierzehn Variationsteilen komprimiert, wobei das Orchesterstück – der Ästhetik der Überraschung folgend – nach der 13. Variation in eine Musiktheaterszene gewendet wird: Ein Bilderbuch-Brahms mit Rauschebart tritt auf, um Respektierliches über seine Heimatstadt Hamburg aus seinen eigenen Briefen zitierend aufzusagen. Und bei der letzten Variation spaziert auch noch der zopfige Händel herzu, um dem an Stelle der Fuge als Ziel des Variierens herausgestellten Thema zu lauschen und bei der clusterartigen Coda wortlos wieder das Weite zu suchen. Variationen ohne Fuge war erfolgreich im Konzertsaal, bei Gesprächskonzertdirigenten und bei Musikpädagogen. Die Sankt-Bach-Passion von 1985, für die Berliner Festwochen entstanden, lässt sich noch weniger als Orchesterkomposition verstehen, ist sie doch unmittelbar aus der quellendokumentarisch belegten Biographie Bachs wie ein neuzeitliches Hörfunkfeature als durchlaufender Text abgeleitet, der von Sprechern, Sängern und Chören ohne weitere szenische Mittel wiedergegeben und vom Orchester lediglich mit Begleitformeln grundiert wird.

Seit Mitte der achtziger Jahre hat Kagel mehr als zehn Orchesterstücke komponiert, die in normalen Orchesterkonzerten aufgeführt werden. Sie gehören allesamt zu Kagels im weitesten Sinne neoklassizistischer Phase und verdanken sich teils sehr verschiedenen Aufträgen. Das erste mit dem Titel Ein Brief für Mezzosopran und Orchester von 1985/86, ein Auftragswerk des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg, bringt gestisch-theatralische und klangfarbliche Vorstellungen zusammen. Die Solistin spricht zu Beginn die Anrede eines Briefes „Meine liebe ...“, um dann „in Art einer Vokalise, aber mit gesteigertem Ausdruck“ zusammen mit dem Orchester für jeden Hörer wieder einen anderen Briefverlauf klanglich auszumalen. Sie folgt dabei einem Ablauf von 24 skizzierten Gesten und Aktionen, in denen der fünfseitige ‚Brief‘ als Requisit in den Händen der Sängerin eine Schlüsselrolle spielt, bis er zum Ende Blatt für Blatt weggeworfen und schließlich zerrissen wird. Quodlibet für Frauenstimme und Orchester von 1986/88, ein Auftragswerk vom Kulturminister Frankreichs, der Gulbenkian-Stiftung Lissabon und der Hintergrund-Institution des nicht mehr existierenden ‚Rencontre‘-Festivals in Metz, Liturgien für Solostimmen, Chor und Orchester von 1989/90, ein Auftragswerk des Westdeutschen Rundfunks Köln, und Interview avec D. pour Monsieur Croche et Orchestre auf Texte von Claude Debussy von 1993/94 sind je ganz andere Orchesterstücke, in denen gesungene oder gesprochene Texte eine je wieder andersartige zentrale Rolle spielen.

Kagels Musik für Tasteninstrumente und Orchester von 1987/88, ein Auftragswerk der Philharmonie Köln, ist insofern ein besonderes Werk, als es bei seiner Uraufführung ein zusätzliches Medium ins Spiel gebracht hat. Die Besetzungsangabe lautete „für Tasteninstrumente, Orchester und Stoffe“, und farbige Stoffbahnen von Ursula Burghardt in Farblichtregie von Kagel kommentierten die Musik. Dennoch bezeichnet der Komponist sein Stück als ein „Werk absoluter Musik“.

In diesen Zusammenhang gehören dann eine Reihe weiterer Orchestermusiken: wie etwa das ein Jahr später im Auftrag des Festival d’automne Paris zunächst für Ensemble entstandene Les idées fixes, ein Spiel mit fünf teils aufeinanderfolgenden, teils ineinander verschränkten Rondoformen, das Konzertstück für Orchester mit dem Titel 1991 von 1990, das Konzertstück für Pauken und Orchester von 1990/92, die drei Études für großes Orchester und die für die Duisburger Philharmoniker entstandenen Broken Chords für großes Orchester von 2001.

In ihrer Textur aber sind auch diese Orchesterstücke nicht grundsätzlich anders aufgebaut als die Partituren der Stücke mit einer oder mehreren Solostimmen. Sie sind aus kleinsten Motiv-, Akkord- und Rhythmikzellen in einer charakteristisch changierenden Art und Weise aufgebaut zu kleinen einander ablösenden Formzellen, aus denen ganze Formteile und schließlich die Großform aufgebaut sind. Das Prinzip der Aufeinanderfolge der Teile besteht darin, etwas Nichtvorhersehbares folgen zu lassen bis zur in diesem Kontext fremden, also vorhersehbaren, Wiederkehr des (fast) Gleichen. Und die zellularen Bestandteile sind den verschiedensten Genres und Satztypen der höheren und niederen Musikszenen entlehnt, spielen mit ihnen, fördern einen Funken Skurrilität vielfach auch durch eine entsprechende instrumentale Färbung zutage. Das Urbild solchen Komponierens kann man zum Beispiel in Igor Strawinskys Pulcinella-Partitur finden mit ihren immer wieder anders instrumentierten Motiven, Perioden, Verkürzungen aus ausgewählten Vorlagen Giovanni Pergolesis.
Und so ist es wohl kein Wunder, dass das akzentuierte, drei Sechzehntel abwärts notierte rein gestische Posaunenglissando aus dem mit ‚Vivo‘ überschriebenen Satz aus Pulcinella – zwei degenfechtende Grobiane erstechen Pulcinella – im letzten Rondo in Kagels Les idées fixes zitiert wird.

Reinhard Oehlschlägel

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.