Valses nobles et sentimentales

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t1 Konzertführer
Maurice Ravel
Valses nobles et sentimentales

In den Valses nobles et sentimentales, zunächst für Klavier (1911), dann für Orchester (1912), schließlich sogar als Ballett (Adélaïde, ou le langage des fleurs, 1912) geschrieben, setzt sich Ravel gleich mehrere Stilmasken auf. Der Titel spielt auf Schubert an, der zwischen 1823 und 1827 zahlreiche Valses nobles und Valses sentimentales komponiert hat. Es handelt sich um zwei soziologisch verschiedene Grundtypen des Walzers, die einmal der gesellschaftlichen Repräsentation dienen (Valses nobles) und zum anderen sich im intimen Rahmen bewegen, auch einen weichen melodischen Charme entfalten (Valses sentimentales). Ravel geht aber noch weiter: Er schafft eine Art Kompendium des Walzer-Tonfalls von Schubert über Weber und Chopin bis hin zu Johann Strauss und schließlich sogar zur Andeutung des endgültigen Walzeruntergangs, den er dann im eigenen, späteren La Valse vollziehen wird. Mit dieser Walzerfolge, die ebenso wie Webers Aufforderung zum Tanz durchkomponiert ist und verhalten schließt (‚Epilogue‘), trennen sich endgültig die Wege Debussys und Ravels, denn die ätzende Freisetzung der Dissonanz und die Schärfe der motivischen Konturen, auch der bewusst verfremdende Gebrauch der unterschiedlichen Walzer-Tonfälle und die neuartige harmonische Technik der stellvertretenden Akkorde, die sich einfacher geben, als sie tatsächlich sind – das alles hebt Ravels Musik von derjenigen Debussys ab. Ravel gefällt sich nun darin, unter dem Motto aus Henri de Regniers Roman Les Rencontres de Monsieur de Bréot (1904) zu komponieren: „Das köstliche und stets neue Vergnügen einer nutzlosen Beschäftigung“ – eine jener Untertreibungen, deren Attitüde darauf hinweist, dass Ravel etwas verbergen will.

Das Motto spielt aber auch auf den Zug lustvoller Kultiviertheit an, der für Ravel der einzige Daseinsgrund seiner Musik überhaupt ist. Sie ist ihm keine metaphysische Offenbarung, sondern ein kostbares Stück Handwerk, nichts mehr, aber auch nichts weniger. Die Valses nobles et sentimentales, spüren, so besehen, dem Wesen der verschiedenen Walzer-Tonfälle nach, ohne die Last dieser Arbeit dem Hörer aufzubürden. Dennoch befremdete das Werk; man stieß sich an der Kühnheit, ja an gewissen unzugänglichen Eigentümlichkeiten der neuen Musiksprache Ravels, an dem preziösen Gebrauch der Dissonanz und an dem flüchtigen Charakter mancher Walzer, was aber dem Grundgedanken des Kaleidoskops nahesteht: Es geht Ravel um Walzer-Belichtungen, um die Antwort auf die Frage, was denn eigentlich ein Walzer sei. So kommen sie alle in Masken daher: zunächst, als Entree, Schubert, dann der Typus des langsamen, ‚schmachtenden‘ Walzers mit einer an Schönbergs erstem Klavierstück aus Opus 11 orientierten harmonischen Schärfe, darauf ein kapriziöser Walzer (die Balletthandlung Adélaïde erklärt das genauer) und dann jener Vorgriff auf La Valse, der Typus des Walzers von Johann Strauss, dem ‚Walzerkönig‘; es folgt ein Ländler-Charakter, allerdings in höchst modernem Gewand und ein Kampf der Metren gegen die Eigenwilligkeit des Basses im sechsten Walzer, schließlich noch ein Wiener Walzer mit ‚poetischer‘ Einleitung, der den großen Tanzwalzer evoziert und im Trio die aristokratische Blässe des Chopinschen Walzer-Tonfalls streift.

Der verlöschende ‚Epilogue‘, zitiert, wie bereits aus fernen Erinnerungsspuren, Bruchstücke der Walzerfolge, eigentümlich verzerrt und wie in einen Traum versetzt. Die kühle Sinnlichkeit der Walzerfolge geht am Schluss auf in einer vagen Atmosphäre, die dennoch genau auskonstruiert ist. Man tat recht daran, dem Tonfall von Anfang an nicht ganz zu trauen. Und die (nachgearbeitete) Balletthandlung bringt es ohnehin an den Tag, was gemeint sein könnte. Die Handlung spielt in der Zeit der Restauration, in der ein Metternich die Ablenkungsfunktion der Musik propagierte; wir befinden uns im Salon einer spröden Schönen, wo sich amouröse Affären und kleine, lächerliche Frivolitäten abspielen. Adélaïde ist natürlich Kurtisane: „Auf beiden Seiten der Bühne befinden sich Vasen voller Blumen, beim Aufgehen des Vorhangs sieht man Paare tanzen oder sich ruhig unterhalten. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die wankelmütige Adélaïde mit ihren rivalisierenden Freiern, Lorédan und dem Herzog. Die verschiedenen Gefühle von Liebe, Hoffnung, Zurückgewiesensein werden durch die Blumen symbolisiert, welche die Tänzer miteinander tauschen. In der letzten Szene gibt Adélaïde dem Herzog einen Akazienzweig (platonische Liebe), während Lorédan zunächst eine Mohnblume (Vergessen) erhält. Erst als er mit Selbstmord droht, bekommt er eine rote Rose, und Adélaïde fällt ihm in die Arme“ (Arbie Orenstein).
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.