Tzigane, Rapsodie de concert pour violon et orchestre (1924)

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t1 Konzertführer
Maurice Ravel
Tzigane, Rapsodie de concert pour violon et orchestre (1924)

Die Bravour instrumentaler Virtuosität reizte Ravels Phantasie ebenso wie die Modelle musikalischer Haltungen oder kompositorischer Verfahren. So nahm er sich für die Komposition der Konzertrhapsodie Tzigane (mit Klavier- oder Orchesterbegleitung) vor, das Modell der Ungarischen Rhapsodien Liszts zu wählen und die Spieltechnik des Soloinstruments zu transzendieren. Er tat so, als schlüpfe er in die Rolle eines Zigeunerprimas, ließ sich aber während der Kompositionsarbeit jene Ventiquattro capricci Paganinis vorspielen, die, wie es Robert Schumann seinerzeit ausgedrückt hat, den „Wendepunkt der Virtuosität“ darstellen. Was er dann komponierte, überbot alle anderen Virtuosenstücke für Violine, denn es dürfte keines geben, das auf so kurzem Raum – das Stück dauert kaum eine Viertelstunde – so viele spieltechnische Finessen zusammendrängt und zugleich den zigeunerhaften Improvisationsgestus derart auf eine strenge Konstruktion festnagelt, dass er unter seinen Händen echter klingt als in Natur. Mit der Lässigkeit eines Zigeunerprimas, die man wegen des Titels erwarten könnte, hat das nichts mehr zu tun, sehr viel aber mit der Künstlichkeit Ravels, die man nicht unmittelbar merkt. Zwar übernimmt Ravel die besondere Art des Vortrags, überführt jedoch das Prinzip der ‚freien‘ Assimilation völlig heterogener Materialien, wie es in der Zigeunermusik üblich ist, der Täuschung, indem er es auf zweiter, bewusster Ebene nachdrücklich auskomponiert und künstlich herstellt. Er vertraute darauf, dass seine kompositorische Assimilationsfähigkeit nachweisen könne, wie sehr gerade Improvisatorisches unfrei sei.

Der Aufbau der Rhapsodie folgt dem Schema der Vorlage: Auf einen langsamen, rezitativischen und einleitenden Teil (‚Lassan‘), der hier allein dem Solisten vorbehalten ist, folgen die variationsartigen, scheinbar frei gestalteten, schnelleren Abschnitte (‚Friska‘ und ‚Csardas‘), die, wie immer bei Ravel, in einer panikartigen Stretta gipfeln. Der improvisatorische Charakter der Variationen, den Ravel auskonstruiert hat, erscheint als vorgetäuschte Unmittelbarkeit des Vortrags, sodass die Künstlichkeit der kompositorischen Arbeit dem Hörer verborgen bleibt. Das ist Ravels Ästhetik der Verstellung: Sie entzieht sich unseren neugierigen Fragen.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.