Le Tombeau de Couperin, Suite d'orchestre (1919)

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t1 Konzertführer
Maurice Ravel
Le Tombeau de Couperin, Suite d'orchestre (1919)

Mit der Klaviersuite Le Tombeau de Couperin, komponiert 1914 bis 1917, zwei Jahre später (unter Fortlassen der Sätze ‚Fugue‘ und ‚Toccata‘) orchestriert, endet Ravels zweite Schaffensperiode, die im Jahre 1905 begonnen hat und, durch den Ersten Weltkrieg (und den Tod der Mutter, 1918) verursacht, abbricht. Bereits in Le Tombeau de Couperin kündigt sich die neue, ‚klassizistische‘ Richtung des Ravelschen Komponierens an, die erstmals im Klaviertrio (1914) anklang und später zum ‚stile dépouillé‘ der Violinsonate (1923 bis 1927) und der Duo-Sonate für Violine und Violoncello (1920 bis 1922) führen sollte. Der Meister der klingenden Masken und der musikalischen Künstlichkeit begibt sich auf das Terrain des von ihm ohnehin in jeder Hinsicht geschätzten 18. Jahrhunderts, im Fall des Tombeau jedoch nicht auf das der Wiener Klassiker, sondern – ganz im Gegensatz zu den ‚Neoklassizisten‘ der zwanziger Jahre – auf das der französischen Clavecinisten (Couperin, Rameau). Ihn lockte der fremdartige Reiz ihrer Strenge, die seinem eigenen Hang, Gefühle zu verbergen und sie in der Musik nur vermittelt (oder sogar durchs Gegenteil) aufscheinen zu lassen, so vollkommen entspricht. Außerdem liebte Ravel kompositorische Zwänge, komponierte eigentlich immer ‚A la manière de...‘, nicht nur in den beiden Stücken A la manière de Borodine und Chabrien (beide 1913 komponiert). Der Vorwurf des ‚Stilplagiats‘ dagegen kann ihn nicht treffen, denn seine kompositorische Künstlichkeit ist darüber weit erhaben. So greift er in dem sechssätzigen Epitaph – ‚Tombeau‘ bedeutet ja ‚Grabmal‘ – auf Formen (Prélude, Fugue, Toccata) und Tänze (Forlane, Rigaudon, Menuet) des 17. und 18. Jahrhundert zurück, um sie in einem kompositorischen Läuterungsprozess von raffinierter Preziosität und ausgesuchtester Künstlichkeit sozusagen gleichzeitig ‚archaisch‘ – durch den Gebrauch kirchentonartlicher melodischer und harmonischer Wendungen – und ‚modern‘ – in der differenzierten, chromatischen Durchsäuerung der Klänge – erscheinen lassen. Der Titel, der eine bewusste künstlerische Idee verspricht, und die befremdliche Anwendung von Tänzen für eine Komposition, die ein ‚Grabmal‘ sein soll, sind paradox miteinander verschränkt: „Es entspricht Ravels Ästhetik der Stellvertretung, wenn er seine dunkelsten Empfindungen in Formen gießt, die einmal der Geselligkeit und der Erotik gedient haben“ (Stuckenschmidt). Doch um welche „dunklen Empfindungen“ mag es sich hier handeln?

Ravel sprach von einer Huldigung an die französische Musik des 18. Jahrhunderts, an ihre Klarheit und gemeißelte Form, die keinen sentimentalen Ausdruck kennt. Denn die Gefühle sind vergänglich, dem flüchtigen Augenblick unterworfen, die Form nicht. Immerhin war, nach Wanda Landowskas Zeugnis, das Clavecinstück Arlequine von François Couperin das Lieblingsstück Ravels. Der Titel Tombeau wäre zu deuten als wehmütige Erinnerung (und Beschwörung) einer unwiederbringlichen musikalischen Welt und als unmittelbares Gedenken an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Freunde, denen die einzelnen Stücke gewidmet sind. Die hintergründige Trauer, die sich hinter der hellen, fast spielerischen Oberfläche der Tänze versteckt und nur bei genauerem Hören in den harmonischen Brechungen aufscheint, lässt die Deutung zu, dass Ravel eine in Tanzhaltungen objektivierte Trauer zum Ausdruck bringen wollte, eine paradoxe Idee zwar, aber ganz im Sinne der Abscheu Ravels vor Wehleidigkeit und unvermittelten Gefühlsausbrüchen; er vertrat den Standpunkt der Kaltblütigkeit: „Man muss Kopf und Unterleib haben, aber kein Herz“, mit anderen Worten: Die Gefühle dürfen sich nicht preisgeben, sondern müssen zur Gestalt finden. Die Suite ist deshalb aus dem Geist äußerster Verfeinerung und Sublimierung der musikalischen Mittel und Wirkungen geschrieben, um eine „rätselhafte und schmerzliche Aura“ (Stuckenschmidt) zu beschwören, die eigentlich ein Abschied ist.
Dietmar Holland

© Csampai / Holland: Der Konzertführer. Rowohlt Verlag.